Berlin-Chemie Newsletter vom 25. September 2019

Berlin-Chemie Newsletter vom 25. September 2019

  • ePatientenakte: Keine Liebe auf den ersten Blick?
    Auch nach dem Digitalgesetz wird es viele Baustellen geben
  • Arzneimittelimporte wachsen überproportional
    Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung schafft neue Probleme
  • Endlich: G-BA hat über zwei Dauerthemen entschieden
    Ethikdebatte um Pränataltests wird weitergehen
  • Homöopathie soll erstattungsfähig bleiben
    Geringe Kosten sind für Spahn ausschlaggebend
  • Faire-Kassenwahl-Gesetz hängt
    Bundesweite Öffnung regional organisierter Kassen bleibt strittig
  • Patientensicherheit: Zentrales Fehlerregister muss her
    Kaum Erkenntnisse über die ambulante Versorgung
  • Die Zukunft der landärztlichen Versorgung
    Von Quoten, Patientenbussen und Telemedizin


ePatientenakte: Keine Liebe auf den ersten Blick?    

ePA, eRezept, DiGA und Co.: Bei fast allen Vorhaben gibt es noch Diskussionsbedarf.

Eines ist in dieser Legislaturperiode bereits jetzt klar: Der Gesetzgeber will sich zur nächsten Wahl nicht Vorwürfe anhören müssen, die digitalen Baustellen nicht angegangen zu sein. Das klappt in allen Politikfeldern bisher eher bescheiden, aber im Bundesministerium für Gesundheit zeigen die Verantwortlichen wenigstens ein erhöhtes Engagement. „Digitalisierung verschwindet nicht mehr. Das deutsche Gesundheitssystem ist kein gallisches Dorf in einer digitalen Welt. In jedem unserer bisher 16 Gesetze in 16 Monaten haben wir eine Digitalkomponente“, so Christian Klose, Unterabteilungsleiter gematik, Telematikinfrastruktur, eHealth im BMG. Das „alles lösende Digitalisierungsgesetz“ werde es nicht geben.

Eines der ganz großen Themen dieser Legislatur ist die Vernetzung von Leistungserbringern, Kostenträgern und Patienten. „Wir haben uns erfolgreich über lange, lange Jahre den internationalen Standards verwehrt“, so Dr. Florian Fuhrmann, Geschäftsführer der KV Telematik. Schuld sind vor allem die unterschiedlichen Interessen im System und dezentral gefangene Daten. Mit der Webanwendung „ePA-Aktensystemsimulator“ der gematik sollen Entwickler jetzt noch vor der Einreichung ihrer Anwendung zur Zulassung eigenständig prüfen können, ob sie mit ihrem Produkt die gematik-Anforderungen erfüllen. Das soll die Entwicklungszeit beschleunigen. Der Service simuliert das ePA-Aktensystem sowie den Schlüsselgenerierungsdienst und ermöglicht die Ausführung individueller Testfälle. Sowohl die angebotenen Schnittstellen und Operationen des ePA-Aktensystemsimulators als auch der bereitgestellte Testfallkatalog entsprechen den aktuellen gematik-Spezifikationen. „Wir haben schon millionenfach Patientenakten in Deutschland. Diese sind aber arztzentriert. Wir haben oft verschiedene Akten zum gleichen Patienten bei verschiedenen Ärzten“, argumentiert Fuhrmann. Es werde noch einige Jahre nach dem Startschuss der elektronischen Patientenakten in 2021 dauern, bis diese von Ärzten und Patienten geliebt und angewendet werden, befürchtet er. „Wir können nicht einfach einen Schalter umlegen“, so Fuhrmann und beruft sich auf die Erfahrungen mit den Praxisverwaltungssystemen. Die seien am Anfang bei den Ärzten auch nicht beliebt gewesen, weil man diese nicht wie eine Kartei in den Händen halten könne.

Eine weitere Baustelle ist das elektronische Rezept. Ohne einen Fachdienst – einem Server, auf dem das Rezept landet und dort vom Apotheker abgeholt wird – wird es nicht funktionieren. Wer dafür verantwortlich werden soll – Kassen, Ärzte oder Apotheken – ist bisher unklar. „Da werden wir gute gesetzliche Regelungen brauchen“, meint der KV Telematik-Chef. Regulatorische Lücken gibt es auch bei den Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA), welche nach dem Digitale Versorgung Gesetz (DVG) ab 2020 verordnungsfähig werden sollen. Ärzte müssten ausführlich über die Produkte informiert werden, sodass sie ihrerseits die Patienten über die Nutzung aufklären könnten. „Wird eine App auf Kassenkosten verschrieben, aber nur ein einziges Mal geöffnet, dann ist das nicht im Sinne des Erfinders. Das kann sich die GKV auch nicht leisten“, so Dr. Regina Vetters, Leiterin Bereich Digital und Innovation bei der Barmer. Auch müsse der Umgang mit Original und Nachahmern geregelt werden. Während es in der Medizinproduktewelt üblicherweise Patente gibt, kann im App-Markt eine Anwendung nachgebaut werden. Auch müsse über die Zulassung und Preissetzung bei Produkten, die sich kontinuierlich weiterentwickeln, diskutiert werden. Solche Produkte müssten nach Meinung der Barmer-Expertin eigentlich regelmäßig betrachtet werden. „Das ist eine ganze Menge und das schafft man nicht in einem Gesetz“, meint Vetters. Dann ist es wohl gut, dass aus dem BMG noch der ein oder andere Entwurf kommen dürfte.

Arzneimittelimporte wachsen überproportional    

Die Befürchtungen sind wahr geworden: Der neue Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung hat den Importmarkt stark befeuert. Apotheker wollen nun eine Nachbesserung.

Seit dem 1. Juli 2019 gilt der neue Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung und hat offenbar dafür gesorgt, dass der Importmarkt überproportional wachsen konnte. Bereits im Juli 2019 wurden deutlich mehr Importarzneimittel abgegeben: Wie neue Zahlen von IMS Pharma Scope zeigen, wurden rund 2,01 Millionen Packungen Importarzneimittel zulasten der GKV abgegeben – das sind 36 Prozent mehr als im Vormonat. Auch im Vergleich zu den Quartalsanfängen der letzten zwölf Monate und mit Blick auf den Gesamtmarkt sind die Auswirkungen des neuen Rahmenvertrags kaum zu übersehen.

Doch wie kam es dazu? Der neue Rahmenvertrag regelt, dass nun automatisch zwei wirkstoffgleiche, patentgeschützte Originale und ihre Importe in den Generikamarkt einsortiert werden. Wenn es im Generikamarkt also keinen Rabattvertrag gibt oder der Rabattvertrag nicht erfüllt werden kann, stehen die vier preisgünstigsten Präparate zur Verfügung, wobei das namentlich verordnete Arzneimittel nicht automatisch dabei ist.

Die Apotheker sind wenig erfreut über diese Regelung. Importe stehen zwar oft in den Handelslisten, sind aber nicht immer in ausreichender Menge verfügbar. Für die Apotheken bedeutet das nicht nur etliche Austauschvorgänge, die Arbeitszeit fressen, sondern sie können auch nicht die Originalarzneimittel abgeben, die sie bereits auf Lager haben. Für Patienten kann dies bedeuten, dass sie zweimal den Weg in die Apotheke auf sich nehmen müssen, damit am Ende wenige Cent zusätzlich eingespart werden können. Einfach Importe zu lagern, ist für die Apotheker aber auch keine Option das Problem zu lösen, können sich die vier preisgünstigsten Arzneimittel doch alle zwei Wochen ändern. Die Apotheken wünschen sich eine zügige Nachbesserung des Rahmenvertrags. Für diese Probleme ist noch keine Lösung in Sicht.

Endlich: G-BA hat über zwei Dauerthemen entschieden    

Die umstrittene Liposuktion ist ab 2020 vorerst eine Kassenleistung für besonders stark betroffene Frauen. Und: Trotz laufender Ethikdebatte hat der Gemeinsame Bundesausschuss nicht-invasive Pränataltests als Leistung beschlossen.

Im Januar 2019 kündigte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn an, dass die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) künftig die Kosten für eine Liposuktion (operative Fettabsaugung) zur Behandlung des Lipödems (krankhafte Fettverteilungsstörung an Armen und Beinen) übernehmen soll. Daran erkrankte Patientinnen sind oft durch Schmerzen, Blutergüsse und Ödeme (Wassereinlagerungen) belastet. Doch die Debatte begann noch weit vor Spahn: Im März 2014 stellte die Patientenvertretung im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) den Antrag, das „Fettabsaugen“ bei Lipödem als Methode zu prüfen. Drei Jahre und drei Monate später, im Juli 2017, lehnten die Bänke im G-BA die Aufnahme von Liposuktion in den Leistungskatalog vorerst ab, beschlossen aufgrund von „Behandlungspotential“ aber die Ausschreibung einer Erprobungsstudie und setzten die Bewertung aus. Nun wurde die Entscheidung über eine Übergangsregelung für besonders stark betroffene Frauen (Stadium 3) getroffen. Der Einschluss der Methode in den Leistungskatalog ist zunächst bis zum 31. Dezember 2024 befristet, da bis zu diesem Zeitpunkt die Ergebnisse der vom G-BA in die Wege geleiteten Erprobungsstudie zur Liposuktion bei Lipödem erwartet werden. Die Kassen hatten bisher kritisiert, dass der Nutzen noch nicht ausreichend belegt sei. Dr. Bernhard Egger, Leiter der Abteilung Medizin beim GKV-Spitzenverband, hatte so in der Vergangenheit beim G-BA gesagt: „Liposuktion wird in den Niederlanden und in Frankreich aufgrund fehlender Datenlage nicht bezahlt; in Österreich gibt es Einzelfallentscheidungen. Wir haben es in Deutschland nicht abgelehnt, sondern eine Erprobungsstudie angelegt.“ Bei dieser hatte der G-BA im Januar 2018 den Zuschlag an das Zentrum für Klinische Studien Köln (ZKS) an der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln zusammen mit der Hautklinik des Klinikums Darmstadt vergeben. Dort wird aktuell der Nutzen der Absaugung gegenüber einer alleinigen nichtoperativen Behandlung wie der „Komplexen Physikalischen Entstauungstherapie“ untersucht. Nun gilt vorerst: Kann trotz der konservativen Therapie (z. B. Lymphdrainage, Kompression, Bewegungstherapie) keine Linderung der Beschwerden erreicht werden, kann der behandelnde Arzt die Durchführung einer Liposuktionsbehandlung verordnen. Als Qualitätssicherungsmaßnahmen wurden unter anderem eine Operationsplanung und –dokumentation festgelegt. Es gibt keine belastbaren Schätzungen, wie viele Frauen an einem Lipödem leiden. Das Bundesgesundheitsministerium spricht von drei Millionen Frauen. Der G-BA bestätigt diese Zahlen nicht.

Auch ein zweites große Dauerthema hat eine wichtige Hürde genommen: die nicht-invasiven molekulargenetischen Tests (NIPT). Zwar hatte eine Gruppe fraktionsübergreifender Abgeordneter den G-BA gebeten, eine Entscheidung über diese vorgeburtlichen Tests zu vertagen, doch die Bänke der Selbstverwaltung trafen trotzdem eine Entscheidung. G-BA-Chef Prof. Josef Hecken argumentierte, dass es unklar sei, wann und ob sich der Bundestag wieder den Pränataltests widmen würde. In begründeten Einzelfällen und nach ärztlicher Beratung unter Verwendung einer Versicherteninformation können NIPT zur Klärung der Frage des Vorliegens einer Trisomie 13, 18 oder 21 eingesetzt werden. Der G-BA begründet den Beschluss auch damit, dass so die risikoreicheren invasiven Untersuchungen – Chorionzottenbiopsie (Biopsie der Plazenta) oder Amniozentese (Fruchtwasseruntersuchung) – und das damit verbundene Risiko einer Fehlgeburt nach Möglichkeit vermieden werden können. Vor 2021 wird NIPT aber wohl keine Anwendung finden: Zuvor müssen verpflichtend vorgesehene Versicherteninformationen entwickelt werden. Über diese wird ein Beschluss gegen Ende 2020 erwartet. Auch das Bundesministerium für Gesundheit kann den aktuellen G-BA_Beschluss noch beanstanden. Denn das Thema ist brisant. Politik und Fachverbände diskutier(t)en bereits länger darüber, ob die GKV solche Tests in den Leistungskatalog aufnehmen sollte. Bislang mussten die Eltern die Kosten von 130 bis 450 Euro für die Tests, die seit 2012 auf dem Markt sind, selbst tragen. Statt der Frage der Leistungsausweitung müsse eine viel wichtigere Frage gestellt werden, mahnten der Berufsverband Deutscher Humangenetiker (BVDH) und der Berufsverband niedergelassener Pränatalmediziner (BVNP) an: Wie viel Pränataldiagnostik wollen wir? Die Fachverbände für Menschen mit Behinderung sprechen sich entschieden für das Lebensrecht aller Menschen sowie für eine verbesserte Verzahnung von ärztlicher und unabhängiger psychosozialer Beratung aus. Gesellschaftlichen Bestrebungen der Selektierung menschlichen Lebens sei entschieden entgegenzutreten. „Menschen mit Behinderung sind Mitglieder unserer Gesellschaft. Wenn wir akzeptieren, dass Tests als selbstverständliche Kassenleistung bezahlt werden, welche die Gefahr in sich bergen, Embryos mit Auffälligkeiten das Recht auf Leben abzusprechen, verändert dies den Blick auf ein Leben mit Behinderung. Das gilt es zu verhindern. Jeder Mensch hat grundsätzlich seine Würde und seinen Wert“, meint Caritas-Präsident Peter Neher.

Dass eine weitere Ethikdebatte über vorgeburtliche Tests unausweichlich ist, wissen auch die Bänke im G-BA. Sie erklärten, dass der gefasste Beschluss nun neuen Schwung in die gesellschaftliche, wissenschaftliche und politische Debatte bringen könnte.

Homöopathie soll erstattungsfähig bleiben    

Homöopathische Präparate sollen als Satzungsleistung der Krankenkassen unangetastet bleiben. Während Minister Spahn von „Peanuts“ spricht, erklären die Gegner: Es geht doch ums Prinzip!

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat erklärt, dass er an der Erstattungsfähigkeit von Homöopathie durch die gesetzlichen Krankenkassen festhalten werde. Denn mit Blick auf die Gesamtaufwendungen der GKV-Kassen handele es sich um vergleichsweise marginale Kosten.
Über diese Argumentation zeigen sich seine Kritiker entsetzt. Das Informationsnetzwerk Homöopathie erklärt: „Zwar sehen wir jeden einzelnen Euro für die Homöopathie als ungerechtfertigte Verwendung von Beitragsgeldern der Solidargemeinschaft an und nicht etwa als ,Peanuts‘. Jedoch sind die Gründe, die der Forderung nach einem Ende der Erstattungsfähigkeit und letztlich der Infragestellung der Arzneimitteleigenschaft von Homöopathika zugrunde liegen, ganz andere, weitaus gewichtigere.“ Mit dieser Entscheidung lasse Spahn der Wissenschafts- und Faktenfeindlichkeit Raum, so die Beschuldigung.
 
Wer solche Mittel haben wolle, solle sie erhalten, „aber bitte nicht auf Kosten der Solidargemeinschaft“ – das ist der Standpunkt des Vorstandsvorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. Andreas Gassen. Auch die Kassenärztliche Vereinigung Hessen stimmt kritisch mit ein: Wer an die Homöopathie glauben wolle, solle das tun, „dann allerdings nicht auf Kosten der Solidargemeinschaft, deren Ausstattung bekanntlich nicht gut genug ist, um zum Beispiel ambulante ärztliche Leistung ohne Budgetierung zu bezahlen“.
 
Auch manche Krankenkassen sehen es nicht so eng. Andrea Galle, Vorständin bei der BKK VBU, erklärte jüngst in einem Interview mit „Der Zeit“: „Ich bin natürlich dafür, dass wir gute Evidenzen haben. Aber liegt es nicht auch in der Logik des medizinischen Fortschritts, dass Therapien angewandt und teils auch erstattet werden, deren Wirksamkeit erst später bewiesen oder vielleicht auch widerlegt wird? Zum Beispiel hat niemand je eine wissenschaftliche Evidenz für Massagen und Moorpackungen vorgelegt.“ Bereits vor fünf Jahren hat die Kasse Homöopathie in den Leistungskatalog aufgenommen. Galle meint weiter: „Wir tun wirklich sehr schlecht daran, das Thema so dogmatisch zu diskutieren.“

Faire-Kassenwahl-Gesetz hängt    

Die Finanzentwicklung vieler Krankenkassen ist schlecht. Das Faire Kassenwahl-Gesetz (GKV-FKG) soll die immer weiter aufklappende Schere stoppen – doch es hängt fest.

Der Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek), der BKK Dachverband und der IKK e.V. werden allmählich unruhig. Während die Prognosen der Krankenkassen zur Finanzentwicklung immer düsterer werden, steckt das Faire Kassenwahl-Gesetz (GKV-FKG) fest und rutscht von einer Tagesordnung des Bundeskabinetts auf die nächste. Der Vorsitzende des BKK-Dachverbandes, Franz Knieps, appelliert an die Politik, das Gesetzesvorhaben zu beschleunigen, sieht er doch einer schlechten Finanzentwicklung für das kommende Jahr entgegen. Beitragssenkungen rücken nicht nur in weite Ferne, einige BKKen müssten sogar die Zusatzbeiträge anheben, so seine Prognose.
 
Strittig ist aktuell vor allem ein Punkt: Der Referentenentwurf sieht vor, die regional organisierten AOKen – und alle anderen nur regional geöffneten Kassen – bundesweit zu öffnen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wolle damit nicht die Versorgung verbessern, sondern eine einheitliche Kassenaufsicht durch das Bundesversicherungsamt (BVA) installieren – so lautet der Vorwurf, den SPD und CSU machen. Diese Ansicht vertritt auch der AOK-Bundesverbandsvorsitzende Martin Litsch und bekam politischen Rückhalt aus dem SPD-Lager. Wenn Spahn dafür keine Mehrheiten finde, solle er dieses Vorhaben fallen lassen, forderte zuletzt die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD, Sabine Dittmar.
 
Knieps findet am Ende: Jeder Akteur und jede Krankenkasse müsse Kröten schlucken, damit die dringend notwendige Reform des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleiches schnellstmöglich komme. Für den BKK-Dachverband sei diese Kröte das Vollmodell.
 
Die Innungskrankenkassen sehen ebenfalls die defizitäre Finanzentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im ersten Halbjahr 2019 mit großer Sorge: Die Mehrbelastung durch die bereits umgesetzten Reformen der Bundesregierung habe sich nun in den Ergebnissen der Kassen deutlich niedergeschlagen. Dabei gehe die Schere der Entwicklung weiter auseinander. Durch eine möglichst rasche Verabschiedung des GKV-FKG sowie die schnellstmögliche Umsetzung der angekündigten Morbi-RSA-Reform muss die Bundesregierung nun dringend gegensteuern.

Patientensicherheit: Zentrales Fehlerregister muss her    

Patientensicherheit ist nicht nur ein wichtiges Thema im stationären Bereich. Im ambulanten Sektor sind die Ausmaße bisher weitgehend unbekannt.

Weil es kein zentrales Meldesystem zu Behandlungsfehlern in der ambulanten und stationären Versorgung gibt, liegen auch keine genauen Zahlen vor. Fest steht aber, da sind sich viele Experten einig, dass Patienten weitaus häufiger gefährdet werden, als es irgendwo dokumentiert wird. Obwohl Ärzte im ambulanten Bereich rund eine Milliarde Behandlungskontakte jährlich haben, liegen nur Auswertungen zu etwa 800 Fehlermeldungen vor - für einen Zeitraum von zehn Jahren. Das kann einfach nicht realistisch sein. Im National Health Service (NHS), dem Gesundheitssystem Großbritanniens, werden jährlich fast 8.000 Fehler in Hausarztpraxen verzeichnet. Ein zentrales Behandlungsfehlerregister sei zur Verbesserung der Patientensicherheit zwingend notwendig, argumentiert das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS). „Auch in Arztpraxen gibt es noch sehr viel Nachhol- und Handlungsbedarf in Sachen Patientensicherheit“, äußert Hedwig François-Kettner, die als langjähriges Aushängeschild des APS e.V. nicht erneut für den Vorsitz kandidieren wird. Es sei Zeit für einen Generationswechsel.

184 Arztpraxen sind am Innovationsfonds-Projekt zur Fortentwicklung von Berichts- und Lernsystemen CIRSforte (Critical Incident Reporting Systems) beteiligt. Gestartet im April 2018, liegen inzwischen gut 250 Ergebnisberichte aus den teilnehmenden Praxen vor. Gehäufte Sicherheitsprobleme gibt es nach bisherigen Auswertungen bei falscher Medikation/Dosierung gefolgt von zwar geplanten, aber nicht durchgeführten diagnostischen Tests und Tests, die falsch dokumentiert wurden. Auch Probleme bei der Patientenidentifikation – also Patientenverwechslungen - seien vorgekommen. Aus den Ergebnissen sollen Präventionsmaßnahmen abgeleitet werden, die Ende Oktober in Berlin vorgestellt werden sollen. Das Projekt selbst läuft noch bis März 2020. „Es gibt einen enormen Aufholbedarf dahingehend, dass sich auch eine medizinische Fachangestellte, ein Arzt im Praktikum oder eine Pflegekraft äußert, auch gegenüber einem Chefarzt, wenn auf der Station oder in der Abteilung etwas nicht funktioniert oder eine Unsicherheit im Versorgungsprozess auffällt“, so Dr. Ruth Hecker, stellvertretende Vorsitzende des APS. Die Offenheit für Fehler und die Beteiligung aller bei ihrer Vermeidung sei ein wesentliches Kennzeichen der Sicherheitskultur.

Die Zukunft der landärztlichen Versorgung    

Wenn es um die Zukunft der landärztlichen Versorgung geht, ist Kreativität gefragt. Beim AOK-Bundesverband wurde über verschiedene Szenarien diskutiert.

Rheinland-Pfalz hat sich für die Quotenlösung entschieden: Ein neues Gesetz reserviert Studienplätze für Bewerber, die ein besonderes Interesse an einer hausärztlichen Tätigkeit oder einer Tätigkeit im öffentlichen Gesundheitswesen haben. Doch ist das der richtige Weg, um die ärztliche Versorgung auf dem Land sicherzustellen? Beim AOK Bundesverband wurde darüber diskutiert.

Fakt ist, dass den Menschen kaum etwas wichtiger ist, als einen Arzt in der Nähe zu haben. „Den Hausarzt gut zu erreichen, das ist für die meisten Menschen in Deutschland wichtiger als schnelles Internet und Einkaufsmöglichkeiten vor Ort“, sagte Jens Martin Hoyer, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, zur Einstimmung auf die Diskussion. Diese Einschätzung teilt Gitta Connemann, stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die in Ostfriesland lebt. Sie sagt aber auch: „Landarzt in jedem Ort ist schon heute Folklore.“ Vielmehr gehe es um die gute Erreichbarkeit eines Arztes. Und dazu, glaubt sie, muss jede Region eine eigene Lösung finden: „Bei uns zum Beispiel hat sich der Patientenbus bewährt.“ Speziell für die Menschen, die auf den Inseln leben, braucht es besonders große Kreativität. Hier kann die Telemedizin zum Einsatz kommen.
 
Doch egal, wo nun der nächste Hausarzt ist – ob direkt im Ort oder im nächsten – Ärzte auf dem Land fallen nicht vom Himmel. Ist die Quote da eine gute Idee? Vielleicht, meint Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer: „Vielleicht müssen wir über einen Regionalproporz bei der Studienzulassung nachdenken. Ich habe oft erlebt, dass die neuen Landärzte genau die werden, die in der Region aufgewachsen sind – die wissen, wie schön es dort ist.“
 
Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Sprecherin für Gesundheitsförderung der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, ist selbst Ärztin und hat lange in einer Einzelpraxis in Bremen gearbeitet: „Das Modell der Einzelpraxis läuft aber gerade aus. Wir müssen uns auch über nicht-ärztliche Verbünde Gedanken machen.“ Schließlich brauche nicht jeder und jede immer direkt einen Arzt. Dr. Christopher Hermann, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg, hat in seinem Bundesland einen guten Weg gefunden, Hausärzte zu entlasten und damit auch andere Bundesländer überzeugt. Dort sind die VERAHs – Versorgungsassistentinnen in der Hausarztpraxis – als erste durch das Land gezogen. Nun gibt es die Qualifizierungsmöglichkeiten für erfahrene Medizinische Fachangestellte auch in anderen Bundesländern.

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