Berlin-Chemie Newsletter vom 17.09.2014

Berlin-Chemie Newsletter vom 17.09.2014

  • Arzneimittelatlas: unten durch
  • Selbstmedikation: außen vor
  • Ärzte: weiter weg
  • Medizinstudenten: näher dran
  • Krankenkassenreserven: weniger drin
  • HZV: oben drauf
  • Internisten: unten durch

Arzneimittelatlas: unten durch

Fünf Jahre Stillstand haben den Bogen überspannt. Die Pharmahersteller bilanzieren.

Trotz beträchtlichem Zusatznutzen kommen viele Medikamente beim Patienten nicht an. Sie bleiben im AMNOG-System hängen. Moderne Arzneimittel erreichen in Deutschland nicht in dem Maße die Versorgungspraxis, wie es eigentlich erforderlich wäre. Dieser Befund gelte sowohl für das Thema Impfen als auch für viele innovative Therapieformen, stellt die vfa-Hauptgeschäftsführerin Birgit Fischer fest. "Die Ausgaben oder Preisprobleme der Gesetzlichen Krankenversicherung sind offensichtlich gelöst. Leider zeigen sich aber zunehmend Versorgungsprobleme im Gesundheitssystem", so fasst Fischer für die forschenden Pharma-Unternehmer die grundlegenden Erkenntnisse bei der Präsentation des Arzneimittel-Atlas 2014 in Berlin zusammen. Autor Prof. Bertram Häussler, Leiter des IGES Instituts, erläutert die Eckdaten: "Die Ausgaben der GKV für Arzneimittel stiegen 2013 zwar um 3,1% bzw. 896 Mio. Euro auf 30,09 Mrd. Euro. Damit lagen die Arzneimittelausgaben noch immer leicht unter dem Niveau des Jahres 2010 (30,18 Mrd. Euro). Die geleisteten Rabatte der Hersteller betrugen 2013 5,67 Mrd. Euro und waren damit um 749 Mio. Euro bzw. 15,2 % höher als 2012."

Als gesellschaftspolitischen Preis für die niedrigen Kosten müsse Deutschland unnötige Schutzlücken bei Masern, Gebärmutterhalskrebs oder Infektionen mit Rotaviren beklagen. Der Impfschutz als wichtige Präventionsmaßnahme wird vernachlässigt, wie sich am Beispiel der Masernschutzimpfung mit einem Rückgang von 1,94 Millionen Dosen in 2006 auf 1,44 Millionen Dosen in 2010 deutlich zeigt. Gleiches gilt für die HPV-Impfung, die sich in Deutschland nicht durchgesetzt hat. Die Impfquote ist hier mit 35 bis 40 Prozent sehr niedrig, während beispielsweise in Großbritannien über ein Schulimpfprogramm 80 Prozent erreicht werden.

Das Ziel des Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetzes (AMNOG), den Patienten einen unmittelbaren Zugang zu innovativen Arzneimitteln zu ermöglichen, wurde nicht erreicht. Die Analysen des Arzneimittel-Atlas zeigen, dass nur wenige Patienten, für die das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen (G-BA) einen Zusatznutzen anerkannt hat, die entsprechenden Medikamente erhalten. Bei der Hälfte der neuen Wirkstoffe mit Nutzenbewertung liegt die Versorgungsquote mit Innovationen trotz AMNOG-Bewertung unter 10 Prozent. Ziel des AMNOG war es, europäische Durchschnittspreise (gewichtet nach Kaufkraft) zu erreichen. Der Erstattungsbetrag liegt nun aber nach IGES-Berechnungen im Schnitt 13,4 Prozent unter dem bevölkerungsgewichteten Durchschnittspreis in Europa. Konkret liegen von 29 betrachteten Wirkstoffen 23 unter dem europäischen Durchschnittspreis, davon zwölf noch unterhalb des günstigsten Vergleichspreises. Nur ein Wirkstoff ist nach der Nutzenbewertung geringfügig teurer als in allen anderen europäischen Ländern. Und wohlgemerkt fließen in die Preisbildung auch Länder wie Griechenland, Portugal und Irland mit ein. Das Pendel schlägt damit "einseitig zu Gunsten von Einsparungen aus und hinterlässt Versorgungsdefizite. Ein Gleichgewicht zwischen Einsparungen und notwendigen Investitionen muss wieder hergestellt werden", so Fischer weiter. Der Arzneimittel-Atlas wird im Auftrag der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) vom IGES Institut erstellt und erscheint mittlerweile in 9. Auflage.

Selbstmedikation: außen vor

Der Interneteinkauf macht den Offizin-Apotheken zu schaffen. Starker Anstieg bei OTC-Präparaten.

Geiz ist geil? Die Schnäppchenjäger haben den Arzneimittelmarkt entdeckt. Seit zehn Jahren können Arzneimittel in Deutschland nicht nur in stationären Apotheken, sondern auch über das Internet gekauft werden. Online-Apotheken bieten rezeptfreie Arzneimittel und Kosmetika mitunter zu günstigeren Preisen an als ihre stationäre Konkurrenz. Die Beratung der Präsenzapotheker wird dennoch gerne in Anspruch genommen, wie die aktuellen APOkix-Ergebnisse zeigen. So geben 60 Prozent der 277 befragten Apotheker an, dass der Anteil an Kunden, die sich von ihnen zu Selbstmedikation und rezeptfreien Medikamenten (OTC) beraten lassen, ohne die empfohlenen Produkte zu kaufen, in den letzten zehn Jahren gestiegen sei. Jeder fünfte Apotheker spricht sogar von einem starken Anstieg.

Aktuell beobachten 83 Prozent der Apotheker, dass mindestens jeder zehnte Besucher, den sie in Fragen der Selbstmedikation und zu OTC-Produkten beraten, empfohlene Arzneimittel nicht kauft. Knapp jeder fünfte Apotheker hat dieses Problem sogar bei mindestens jedem dritten Beratungsgespräch. Mehr als drei Viertel der Befragten gehen davon aus, dass die beratenen Kunden die gewünschten Produkte später bei einer Versandapotheke bestellen. Die Beratung ohne anschließenden Kauf kommt besonders häufig im Indikationsbereich „Vitamine, Mineralstoffe, Nahrungsergänzungsmittel“ vor (57 %). Die Apotheker sehen diese Entwicklung naturgemäß kritisch: Rund 96 Prozent sind der Meinung, dass die persönliche Beratung nicht durch eine telefonische oder elektronische Beratung ersetzt werden kann.

Ärzte: weiter weg

Der Ersatzkassenverband legt überraschende Zahlen vor. Lediglich bei Hausärzten gibt es Lücken.

Einen flächendeckenden Ärztemangel in Deutschland gibt es nicht, wenn man die neuesten Zahlen des vdek zugrunde legt. So bezweifelt Horst Henning, Abteilungsleiter für "Ambulante Versorgung", eine Unterversorgung im ambulanten Bereich. Nach internen Erhebungen der Ersatzkassen besteht lediglich in elf von 894 Planungsbereichen Unterversorgung. Gleiche die Deutschlandkarte bei den Hausärzten noch eher einem "Flickenteppich" mit einigen roten Einsprengseln, so sei die Bundesrepublik insbesondere mit Orthopäden und Internisten flächendeckend überversorgt. Insgesamt will Henning zwar "nicht von überzähligen Ärzten" sprechen, aber es gebe eine Planabweichung von 32.375 (davon 5.515 Hausärzte) nach oben, dem ein Bedarf von lediglich 1.303 gegenüberstehe, "darunter allerdings 749 Hausärzte", wie der vdek-Abteilungsleiter einräumt. Bisherige Maßnahmen zum Abbau der Überversorgung wie das Instrument des Aufkaufs von Arztsitzen funktionieren nicht. Auch die vdek-Vorstandsvorsitzende Ulrike Elsner ist der Meinung, das VStG habe hier dauerhaft versagt. Geld allein wird die Probleme dennoch nicht lösen. Ein Honorarzuschlag wirke nur in Kombination mit anderen gesetzgeberischen Maßnahmen, wie beispielsweise durch Flexibilisierung der Zulassung, Reduzierung von Bereitschaftsdiensten durch gemeinsame Notfallversorgung, Gewährung von günstigeren Krediten, Förderung von mobilen Praxen und Telemedizin, Gemeinschaftspraxen und Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) bis hin zur Öffnung von Krankenhäusern.

Medizinstudenten: näher dran

Die Bereitschaft zur Delegation und Substitution wächst bei den Jungärzten. Landlust gewinnt an Boden.

Es gibt Licht am Ende des Tunnels für die allgemeinmedizinische Versorgung auf dem Lande. Für die junge Ärztegeneration kommt eine Niederlassung genauso in Frage wie eine Tätigkeit in der Klinik. Zu diesem grundsätzlichen Ergebnis kommt eine Umfrage der Universität Trier unter 11.462 Medizinstudierenden im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). So gibt etwa die Hälfte der befragten Medizinstudierenden - davon rund zwei Drittel Frauen - an, generell in der ambulanten Versorgung arbeiten zu wollen. Dabei halten sich die Präferenzen für eine angestellte Tätigkeit mit der Niederlassung als Freiberufler die Waage. Generell legt sich die neue Generation aber nicht fest: Für etwa drei Viertel der Befragten ist es auch gut vorstellbar, später in einer Klinik zu arbeiten. "Über Geld wird nicht gesprochen, aber die Gehaltsvorstellungen liegen bei 5.000 Euro netto", so gibt die Umfrage preis, die die finanziellen Anreize gerade für Hausarztpraxen aber nicht als wesentlich ansieht, sich niederzulassen. Über 46 Prozent der Befragten wollen später „auf keinen Fall“ in Orten mit weniger als 2.000 Einwohnern arbeiten. Deutlich zeigen die Ergebnisse, dass die sogenannten „weichen“ Faktoren eine immer stärkere Rolle bei der Wahl für ein Fachgebiet einnehmen. Punkte wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder eine flexible Gestaltung der Arbeitszeit wurden von den Studenten sehr häufig benannt. Hier wird die Einbeziehung der nichtmedizinischen Fachangestellten künftig eine wichtige Rolle spielen. Die angehenden Mediziner zeigen mehrheitlich weniger Berührungsängste als ihre Altvorderen.

Krankenkassenreserven: weniger drin

Die Krankenkassen rechnen schon für 2015 mit Zusatzbeitrag. BMG sieht dagegen Entlastung dank Reserven.

Wer rechnet besser? Das Bundesgesundheitsministerium oder die Krankenkassen? Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe sieht die Finanzsituation der gesetzlichen Krankenkassen „mit mehr als 16 Milliarden Euro Reserven … weiter stabil.“ Anlässlich der Halbjahresdaten sieht er die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds auch für 2014 ausreichend zur Ausgabendeckung trotz Abschmelzens um 400 Millionen Euro auf aktuell 10,4 Milliarden Euro. Hauptgrund dafür ist eine Absenkung des Bundeszuschusses um 8,7 Prozent auf 5,2 Milliarden Euro. Parallel dazu haben sich auch die direkten Finanzreserven der GKV um 400 Millionen auf 16,2 Milliarden Euro zurückentwickelt. Saldiert beträgt das Defizit sogar 630 Millionen Euro. Als mitursächlich dafür sieht das BMG Prämienausschüttungen in Höhe von 393 Millionen Euro - vor allem bei Ersatz- und Betriebskrankenkassen. Weiter trage die Ausweitung von Satzungsleistungen wie professionelle Zahnreinigung oder Osteopathie zur Steigerung der Leistungsausgaben bei. Diese sind im ersten Halbjahr um 5,2 Prozent gestiegen. Der Verband der Ersatzkassen sagt bis zum Jahresende rote Zahlen für alle 131 Krankenkassen voraus. Verschärft wird die Situation durch die gesetzlich zum 01. Januar 2015 vorgesehene Absenkung des Beitragssatzes von 15,5 auf 14,6 Prozent. Damit fehlen nach Berechnung des GKV-Spitzenverbandes 10 Milliarden Euro. Praktisch alle Krankenkassen wären dadurch gezwungen Zusatzbeiträge zu erheben, so die Kassenklage. Die erwartete Anhebung wird voraussichtlich die gesetzlich vorgesehene Entlastung vollständig aufzehren.

HZV: oben drauf

Die Hausarztzentrierte Versorgung wirkt positiv für die Gesundheit der Patienten und die Zufriedenheit der Ärzte. Das Modellprojekt in Baden-Württemberg zieht Zwischenbilanz.

Die HZV lebt, besser in der Betreuung, schneller bei der Terminvergabe und gleichzeitig weniger Medikamentenausgaben und Klinikeinweisungen. Die Freude der Protagonisten ist groß aber auch teuer erkauft. Studienergebnisse der Universitäten Frankfurt/Main und Heidelberg belegen, dass die intensivere Behandlung durch den Hausarzt in Baden-Württemberg auch hilft, mehr als 4.500 Krankenhauseinweisungen in der HZV pro Jahr zu vermeiden. Laut Szecsenyi "eine Folge der viel intensiveren Beziehung zwischen HZV-Arzt und Patient". So hätten HZV-Patienten durchschnittlich pro Jahr drei Hausarztkontakte mehr. Besonders chronisch Kranke und ältere Menschen würden profitieren. Die Arzneimittelausgaben sind pro Patient und Jahr um 100 Euro geringer und dies ohne Rabattberücksichtigung. Dies wird einer „konsequenteren Arzneimittelsteuerung“ zugeschrieben. Kritisch übersetzt bedeutet das allerdings, dass der Arzt anhand eines von der AOK vorgegebenen Empfehlungskatalogs die Medikamente verordnet und den Facharztbesuch faktisch zuteilt. Patienten und Apotheker bleiben hier weitgehend außen vor. Übrigens: Die AOK BW investierte allein 2013 insgesamt über 300 Millionen Euro in die HZV und ist, so betrachtet, „kein Sparmodell“, wie AOK-Chef Dr. Christopher Hermann einräumt. In jedem Fall steht das Modell im Widerspruch zu ARMIN in Thüringen.

Internisten: unten durch

Zu billig verkauft und zu wenig gekämpft? Der Deutsche Internistentag in Berlin wird zur Klagemauer gegen eine Ökonomisierung der Medizin.

„Kommunikationsdesaster“ und „Imageschaden“ sind noch die harmlosesten Beileidsbezeigungen aus den Reihen des Berufsverbandes der Internisten (BDI), die sich von den Verhandlungsführern der KBV im diesjährigen Honorarclinch mit den Krankenkassen alleingelassen sehen. Der Berufsverband Deutscher Internisten (BDI) warnt davor, die GOÄ in einen „Edel-EBM“ zu verwandeln, zeigt BDI-Präsident Dr. Wolfgang Wesiak diesen Bestrebungen die rote Karte. Insbesondere sei die vereinbarte Pauschale Fachärztliche Grundleistung (PFG) von 132 Millionen Euro keineswegs schon als Einstieg in feste Preise zu betrachten, so wie von der Fachärztebasis gefordert und in den Meilensteinen der KBV-Vertreterversammlung seit 2012 festgeschrieben. Mit dem Honorarverhandlungsergebnis zeigt sich der BDI deshalb unzufrieden. Der KBV-Verhandlungsführer Dr. Andreas Gassen habe mit seiner Forderungssumme von über fünf Milliarden Euro Nachholbedarf bei einem anschließenden Verhandlungsergebnis von insgesamt 800 Millionen Euro mehr die Mitglieder enttäuscht. „Das bedarf einer schonungslosen Aufarbeitung", so zürnt der BDI-Chef. Ganz im Zeichen der zunehmenden "Dominanz der Ökonomie im Gesundheitswesen" sieht BDI-Vize Dr. Hans Friedrich Spies die Mediziner unter Druck. Qualitätsvorgaben würden "zur Kostendämpfung missbraucht". Die zusätzliche Honorierung habe nur symbolischen Charakter. Niemand sei in der Lage ohne ausreichend Geld, Medizin in Verantwortung für den Patienten zu machen.

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