Berlin-Chemie Newsletter vom 13. Oktober 2016

Berlin-Chemie Newsletter vom 13. Oktober 2016

  • Arzneimittelgesetz auf der Holperstrecke
  • Ein bisschen Zoff muss sein…
  • Was bitte ist denn Qualität…?
  • Kostendruck sorgt für Zukunftsangst
  • Digital lohnt sich
  • Medikationsplan bleibt ein Kompromiss
  • Unsichere Zeiten für Apotheken
  • Zukunftssicherung durch Technologie

Arzneimittelgesetz auf der Holperstrecke

Der mit Spannung erwartete Kabinettsentwurf des AMG-VSG wurde zwar ohne große Diskussion verabschiedet. Damit ist der Vorhang für das Gesetz allerdings weder zu noch sind alle Fragen beantwortet. Im Februar 2017 soll das Gesetz den Bundestag endgültig passieren. Danach wäre es im Wahlkampfgetümmel wohl schwer, klare Entscheidungen der Koalitionsfraktionen zu bekommen.

Eigentlich sollte das Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (kurz: AM-VSG) die Ergebnisse des Pharmadialogs in einen gesetzlichen Rahmen bringen. Was dann mit dem im Sommer vorgelegten Referentenentwurf vorgelegt wurde, ließ viele Teilnehmer des Dialogs zweifeln, mit den Konstrukteuren des Gesetzes bei den gleichen Veranstaltungen gewesen zu sein. Nun liegt der Regierungsentwurf vor und wird in dieser Fassung in den nächsten Wochen im Bundestag beraten. Auch dürfte die aktuelle Version, so ist hinter den Kulissen zu hören, nicht die sein, die dann am Ende auch Gesetzeskraft erlangt. Besonders im Justizministerium soll es noch Bedenken geben, beispielsweise bei der Absicht, das Preismoratorium auf innovative Arzneimittel mit Preisstand von 2009 bis 2022 fortzusetzen und lediglich ab 2018 einen Inflationsausgleich zu erlauben. Auch die Vertraulichkeitsregelung für vereinbarte Erstattungsbeträge dürfte noch einige Fragen aufwerfen. Insbesondere, ob sich eine solche durch einfache Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates umsetzen ließe und ob sie praktisch einhaltbar wäre. Immerhin schwingt im Hintergrund für viele Hersteller die Frage, ob durch niedrig verhandelte Preise nicht das internationale Geschäft des Herstellers ruinieren könnten und die in der Vergangenheit immer öfter gezogene „opt-out“-Karte für sie sinnvoller wäre.

Als ziemlich sicher gilt, dass für besonders hochpreisige innovative Medikamente innerhalb der ersten zwölf Monate ein Schwellenwert von 250 Millionen Euro gelten soll. Die Phase der freien Preisbildung wäre dann schon mit dem Erreichen dieser Grenze vorbei, der (noch zu verhandelnde) Erstattungsbetrag gälte dann schon früher. Vielen Kassen ist der Wert zu hoch. Politisch dürfte eine Absenkung des Schwellenwertes aber besonders vor einem Wahljahr kaum politisch gewollt sein. Weniger öffentlichen Wirbel, da dem Bürger aufgrund der Komplexität schlecht erklärbar, dürfte da die geplante Flexibilisierung von Erstattungsbetragsfestlegungen bei Arzneimitteln ohne Zusatznutzen sein.

Ein Aufruf der Bestandsmarkt-Medikamente zur Nutzenbewertung ist auch im neuen Entwurf nicht vom Tisch. Allerdings sollen nur Präparate aufgerufen werden, für die ein neuer Unterlagenschutz erteilt wird, beispielsweise durch Indikationserweiterungen. Stoff für Diskussionen dürfte dagegen eine Verordnungseinschränkung für Mittel bringen, für die der G-BA insgesamt keinen belegten Zusatznutzen sieht, die aber dennoch als essentiell für die Versorgung bestimmter Patientengruppen gesehen werden. Die Klärung dieses Themas könnte ebenso brisant werden wie die Pflicht in den Arzt-Informationssystemen, künftig die Ergebnisse der Nutzenbewertung inklusive Subgruppen im Moment der Verordnung darzustellen. Die Ärzteschaft hat sich hier wiederholt sehr skeptisch geäußert und dürfte im politischen Entscheidungsprozess weiterhin Druck in Richtung Therapiefreiheit machen.

Einen Erfolg könnten Apotheker und Ärzte möglicherweise schon jetzt für sich verbuchen. In den Kabinettsentwurf fand das Thema Ausschreibungsverbot für die Herstellung von Zytostatika in Apotheken – entstanden aufgrund eines Urteils des Bundessozialgerichts im vergangenen Jahr – noch eingang. Die noch in der vergangenen Woche gestartete Ausschreibung von Ersatzkassen unter Federführung der Barmer, nach der 240 Apotheken nach festgelegten Kriterien lieferberechtigt wären, könnte Makulatur sein. Begründung ist unter anderem die freie Apothekenwahl. Barmer-Vorstand Dr. Christoph Straub ärgert sich: „Derzeit zahlen die Kassen jährlich 400 Millionen Euro für Zytostatika. Zum ersten Mal könnten wir rechtsverbindliche Qualitätskriterien definieren.“ Zudem gebe es mögliche Wirtschaftlichkeitsreserven in der Apotheke zu generieren, so Straub. Außerdem liege die Wahl der Apotheke bei Zytostatika faktisch gar nicht beim Patienten, sondern beim Arzt. Das Versorgungsgeschehen sei intransparent und dadurch anfällig für Korruption.

Ein bisschen Zoff muss sein…

Der Vorstandsvorsitzende der Techniker-Krankenkasse sorgt seit Tagen für heftige Diskussion über den Morbi-RSA. Dabei ist das Thema nicht neu. Nur hat er als erster Kassenchef „Manipulationen“ von Kassenseite zugegeben.

Der Theaterdonner kam am Sonntagmorgen. Als manche Kassenchefs die FAZ am Sonntag aufschlugen, muss ihnen wohl das Brötchen im Halse steckengeblieben sein. Da erklärte Dr. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse, auf einer ganzen Seite indirekt, dass „Schummeleien“ im Ringen um Mittel aus dem Gesundheitsfonds bei Kassen – selbst bei seiner - absolut üblich seien. Kassen versuchten, Ärzte dazu zu bewegen, dass sie ihre Patienten auf dem Papier kränker erscheinen lassen, als diese es tatsächlich sind. Grund: So bekommt die Kasse mehr Mittel aus dem Finanzausgleich (Morbi-RSA).

Seitdem herrscht Kalter Krieg zwischen den Kassenarten. Vor allem Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, legt sich ins Zeug. Kein Wunder, denn die AOKn sind beim Morbi-RSA die größten Nehmer. Bekanntlich schwelt der Konflikt mit den anderen Kassenarten – insbesondere IKKn und BKKn – wegen als ungerecht empfundener Verteilung beim Finanzausgleich schon lange. Eine Zuspitzung dürfte es aber gerade jetzt geben, wo die Kassen mit spitzer Feder rechnen, ob sie ohne Erhöhung des Zusatzbeitrags in das nächste Jahr gehen. Der Politik käme das in Wahlkampfjahr gerade recht. Aus eben diesem Grund sehen aber auch einige Kassen gute Chancen, die Verteilungsdiskussion jetzt zu beleben. Sie erhoffen sich Unterstützung von Abgeordneten, die sich damit Ruhe an der Wahlkampffront erkaufen möchten .

Besonders stört Litsch, dass Baas publikumswirksam erklärt, den Beitragssatz der TK noch mal um 0,3 Prozentpunkte absenken zu können, würde der RSA „zurückgebaut“. Litsch: “In Wirklichkeit ist das alles nur eine vorgezogene Halloween-Aktion des TK-Chefs, um künftig günstigere Zusatzbeiträge bieten zu können“. Man wolle Wettbewerbsvorteile erzielen. Erst jüngst hätten sich die Ersatzkassen darauf verständigt, die erhoffte „Beute“ von 500 Millionen Euro untereinander aufteilen zu wollen.

Baas konkreter Vorwurf: Für Manipulationsversuche von Ärzten und Ärztevereinigungen hätten die Kassen seit 2014 eine Milliarde Euro ausgegeben, Honorare für externe Berater, die „die Kassen in dieser Richtung beraten“ eingeschlossen. Die Aufsicht (Gemeint sind hier wohl hauptsächlich die Landesgesundheitsbehörden, die für die AOKn zuständig sind, während das Bundesversicherungsamt die TK beaufsichtigt) lege unterschiedliche Maßstäbe an, um Aktivitäten der Kassen zu erlauben oder zu stoppen. Natürlich sind alle Akteure des Gesundheitswesens jetzt „empört“. Die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD, Hilde Mattheis: Die Aufsichtsbehörden müssten nun schnell aufklären, „welche Kassen unerlaubte Prämien an Ärzte als Gegenleistung für manipulierte Kodierungen zahlen“. Fehlanreize bei der Auswahl von Krankheiten im Berechnungssystem müssten korrigiert werden. Darüber debattieren die meisten Akteure allerdings bereits seit Jahren. Der Hauptgeschäftsführer der deutschen Krankenhausgesellschaft, Georg Baum, versäumt nicht, ebenfalls in das Horn zu blasen: „Die Debatte macht deutlich, dass wir einen Medizinischen Dienst für die Prüfung der Kassen brauchen“.

Applaus für Baas kommt aus der Ärzteschaft: Der Vorsitzende des Hartmannbundes, Dr. Klaus Reinhardt, hat die Thematisierung des sogenannten „Up-Coding“ ausdrücklich als „wichtig und mutig“ gewürdigt. Die von Baas angesprochenen „Manipulationen“ bei der Dokumentation von Diagnosen zur Schaffung von Wettbewerbsvorteilen im Rahmen des Risikostrukturausgleiches (Morbi-RSA) müssten endlich offen und vorbehaltlos diskutiert werden. „Wenn wir uns – wie zum Beispiel im Zusammenhang mit der Notfallversorgung – über Instrumente intelligenter Patientensteuerung unterhalten, dann müssen endlich auch Fehlanreize wie Schummeleien beim Morbi-RSA auf den Tisch“, so Reinhardt.

Was bitte ist denn Qualität…?

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) steht unter Druck. Sein gesetzlicher Auftrag, Qualitätsindikatoren zu definieren und in der Versorgung zu implementieren, ist mit Fristen verbunden. In der 8. Qualitätssicherungskonferenz des G-BA wurde die aktuelle Lage aufgezeigt. Hier eine Auswahl wichtiger Impuls-Statements.

Qualität als bevorzugtes Steuerelement der Versorgung, so Dr. Regina Klakow-Franck, unparteiisches Mitglied des G-BA, ist das zentrale Thema, ganz oben auf der politischen Agenda. Ein erstes Maßnahmenbündel soll bereits Ende 2016 beschlossen werden. Die Erwartungen an den G-BA seien sehr hoch, manchmal auch zu hoch, aber keinesfalls immer deckungsgleich. Die einen wollen Ausleseprozesse bei Leistungen und Leistungserbringern, die anderen möglichst nichts verändern. In diesem Spannungsfeld will der G-BA auf der Basis folgender Prämissen gemeinsame Lösungen finden:

  • Der qualitätsorientierte Strukturwandel ist ein grundsätzlich richtiger Ansatz;
  • Qualitätssicherung ist keine Lösung für Probleme anderer Ursachen, z.B. Fehlanreize durch das DRG-System;
  • Qualitätsindikatoren auch bei Planungsentscheidungen zu berücksichtigen ist eine grundsätzlich richtige Weichenstellung, neu entwickelte Indikatoren sollen auch Beurteilung von Fachabteilungen erlauben; eine stufenweise Einführung solcher Indikatoren ist vorgesehen;
  • Eine auf den Patientennutzen ausgerichtete Versorgungssteuerung kann nicht nur durch Vorschriften und Kontrollen erreicht werden, dafür ist eine neue Qualitätskultur Voraussetzung. Die Versorgungsforschung ist gefordert, dafür ein umfassendes Konzept zu entwickeln.

Ein wichtiger Bezug bei der Suche nach Qualitätsindikatoren sind vorhandene Leitlinien. Prof. Dr. Claudia Spies, Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), fordert, Qualität auch aus Patientensicht zu beschreiben. Das vielleicht wichtigste Interesse des Patienten, so Spies, besteht darin, dass durch eine Behandlung kein funktioneller oder kognitiver Schaden zurückbleibt. Dafür sind viele Patienten auch bereit, gegebenenfalls ein höheres Sterberisiko in Kauf zu nehmen. Als Qualitätsindikatoren sollten auch patientenberichtete Endpunkte erhoben werden, ebenso pflegerische Aspekte. Eine neue Leitlinie für die Intensivmedizin, die auf die Initiative „gemeinsam klug entscheiden“ zurückgeht, berücksichtigt dies mit zehn Qualitätsindikatoren.

In Großbritannien geht man andere interessante Wege, so Prof. Sir Mike Richards, Care Quality Commission, London. Eine „Care Quality Commission“ ist für die Überprüfung der Sicherheit und Qualität der Versorgung in sämtlichen Gesundheits- und Sozialfürsorgesystemen in England verantwortlich. Im Jahr 2013 wurde insbesondere für Akut-Krankenhäuser ein neuer Ansatz der Überprüfung eingeführt, da der vorherige beträchtliche Mängel aufwies. Nach Auswertung landesweiter Datenbanken und lokaler Datenquellen erfolgt mit etwa 50 beteiligten Fachleuten eine 3-4tägige Prüfung der Einrichtung vor Ort. Die Prüfung erstreckt sich über alle wichtigen Kernbereiche der Versorgung; für jeden dieser Bereiche werden folgende fünf Aspekte beleuchtet: Patientensicherheit, Wirksamkeit, Patientenfürsorge, Berücksichtigung von Patientenbedürfnissen und Qualität der Ausführung. Jeder dieser Aspekte wird anhand einer 4-Punkte-Skala bewertet (herausragend, gut, verbesserungswürdig, ungenügend). Es zeigte sich eine breite Varianz, nicht nur zwischen den „besten“ und den „schlechtesten“ Krankenhäusern, sondern auch zwischen den einzelnen Versorgungsbereichen innerhalb eines Krankenhauses. Die erste vollständige Überprüfungsrunde wurde mittlerweile beendet.

Dr. Christof Veit, Leiter des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG), das im Auftrag des G-BA für die Entwicklung der Qualitätsindikatoren zuständig ist, begrüßte die personelle Entwicklung seines Instituts von 11 auf 110 Mitarbeiter innerhalb eines Jahres. Arbeit gebe es auch genug: geeignete Qualitätsindikatoren gebe es bisher nur für notwendige Interventionen, planungsrelevante Indikatoren, zum Beispiel für die Zulassung oder die Auswahl von Fachabteilungen müssten dagegen noch entwickelt werden. Hier sei eine stufenweise Weiterentwicklung zu erwarten.

Kostendruck sorgt für Zukunftsangst

40 Prozent der Deutschen haben einen „guten Eindruck“ von der Gesundheitspolitik der Bundesregierung. Trotzdem gibt es Grund für Kritik. Die mangelhafte Budgetierung der Krankenhäuser sorgt dafür, dass immer mehr Patienten Behandlungen vorenthalten werden.

Da hat Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe gut lachen: Aktuell haben rund 40 Prozent der Deutschen einen „guten Eindruck“ von der Gesundheitspolitik der Bundesregierung. Das geht aus dem neuen MLP-Gesundheitsreport 2016 hervor. Von solchen Zustimmungswerten konnten Bundesgesundheitsminister vorangegangener Legislaturperioden nur träumen. Ulla Schmidt beispielsweise erreichte 2008 nur 18 Prozent.

Trotzdem gibt es aus Sicht der rund 2000 Bundesbürger und mehr als 500 Ärzte, die vom Institut für Demoskopie Allensbach befragt wurden, noch erhebliches Entwicklungspotenzial. Zwar sind 25 Prozent der sonst sehr kritischen Ärzte größtenteils zufrieden mit der Arbeit der Politiker, allerdings stehen denen auch 62 Prozent gegenüber, die der Politik ein schlechtes Zeugnis ausstellen.

Größter Kritikpunkt bleibt die mangelhafte Budgetierung der Krankenhäuser. Der Kostendruck wirkt sich zunehmend auf die Auswahl der Therapieoptionen aus. 45 Prozent der Krankenhausärzte gaben an, aus Budgetgründen schon einmal auf medizinisch angeratene Behandlungen verzichtet zu haben. Und das merken auch die Patienten: 40 Prozent hatten der repräsentativen Umfrage zufolge schon mal das Gefühl, dass ihnen Behandlungen oder Medikamente wegen der Kosten vorenthalten wurden.

Ein weiteres Dauerthema auf der Beschwerdeliste: Lange Wartezeiten. Daran konnten auch die neuen Terminvergabestellen nichts ändern, die die Patienten grundsätzlich positiv sehen. Ärzte hingegen lehnen diese häufig ab.

Und wie blicken Bürger und Ärzte in die Zukunft? Eher besorgt. Für die kommenden Jahre rechnen beide Seiten mit einer deutlichen Verschlechterung der medizinischen Versorgung. Vor allem in den ländlichen Regionen macht man sich Sorgen. Drei Viertel der Ärzte begrüßen die von der Regierung beschlossene Gründung eines Strukturfonds, der die Niederlassung von Ärzten auf dem Land fördern soll.

Zudem fürchten sich vor allem kleinere Krankenhäuser zu den großen Verlierern der Krankenhausreform zu werden. Die Ärzte rechnen mit unterdurchschnittlichen Einstufungen durch das neue Qualitätsinstitut und machen sich auf weitere Budgetkürzungen gefasst. Bei der Bewertung der Krankenhausqualität durch Patienten ergibt sich ein sehr unterschiedliches Bild: In Hamburg sind die Patienten überwiegend zufrieden, in Hessen sind die Menschen am unzufriedensten mit der Krankenhausqualität.

Ausruhen kann sich Bundesgesundheitsminister Gröhe also noch lange nicht, auch wenn am Ende 93 Prozent der Ärzte und 82 Prozent der Bevölkerung die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems als gut oder sehr gut einschätzen. Denn besser geht es ja bekanntlich immer. Und genau das fordern auch 66 Prozent der Ärzte und 41 Prozent der Bevölkerung – sie sehen einen hohen Reformbedarf in der Gesundheitspolitik.

Digital lohnt sich

Die neue Roland Berger-Studie warnt traditionelle Unternehmen davor, den digitalen Wandel zu verschlafen und damit lukrative Marktanteile zu verschenken. Von 2015 bis 2020 soll der Markt von knapp 80 auf mehr als 200 Milliarden Dollar wachsen.

Blutzuckerspiegel, Essgewohnheiten, Bewegungsverhalten – all das und noch viel mehr wird heute von Apps erfasst und ausgewertet. Sie sagen uns, wie wir essen müssen, um leistungsfähiger zu sein und wann der nächste Arztbesuch ansteht. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die digitale Transformation des Gesundheitsmarktes ist voll im Gange. Aus der aktuellen Roland Berger-Studie „Digital and Disrupted“ geht hervor, dass der digitale Gesundheitsmarkt von 2015 bis 2020 von knapp 80 auf über 200 Milliarden Dollar wachsen wird – ein durchschnittliches Wachstum von jährlich 21 Prozent.

Welchen Schluss müssen Unternehmen, Ärzte, Apotheker, Patienten und Regierungen daraus ziehen? „Traditionelle Unternehmen sollten sich kulturell und strukturell für Innovationen öffnen und die Digitalisierung jetzt aktiv vorantreiben, um gegenüber neuen Anbietern nicht ins Hintertreffen zu geraten. Dazu sollten sie eine individuelle digitale Strategie formulieren und diese mit geeigneten Maßnahmen konsequent umsetzen“, sagt Roland Berger-Partner Thilo Kaltenbach. Denn ansonsten droht den traditionellen Unternehmen der Anteilsverlust in einem sehr lukrativen Markt.

Neben der Digitalisierung der Wertschöpfungskette stellt die Konkurrenz von neuen Marktteilnehmern die größte Herausforderung für etablierte Anbieter im Gesundheitsbereich dar. Branchenfremde Akteure erhalten durch die neuen Technologien Zugang zu Fachwissen, das bislang nur die Branche selbst hatte. So werden nicht nur Startups, sondern plötzlich auch große Technologiekonzerne zu Mitbewerbern.

Digitalisierung heißt aber nicht nur Transformation, sondern auch Erweiterung. Roland Berger-Partner Morris Hosseini erklärt: „Patienten können sich schon heute weltweit Ärztemeinungen über das Internet einholen. Mit zusätzlichen Daten sind komplette Onlinediagnosen mit neuen Bezahlmodellen denkbar.“ Apotheker werden mithilfe eines 3D-Druckers Medikamente mit personalisierter Dosierung herstellen. Ebenso sollten sich Versicherungskonzerne und Regierungen auf die neuen digitalen Rahmenbedingungen einstellen. „Elektronische Patientenakten ermöglichen eine schnellere und effizientere Krankenbehandlung und können in den kommenden fünf Jahren die Kosten für die Gesundheitssysteme weltweit um 80 Milliarden Dollar senken“, sagt Kaltenbach. Gleichzeitig werden durch die Digitalisierung von Daten und Diensten die nationalen Grenzen fallen, in denen sich Gesundheitssysteme heute bewegen. Versicherungen sollten daher zukünftig ihr Angebot internationaler ausrichten und Regierungen nationale regulatorische Rahmenbedingungen harmonisieren.“

Medikationsplan bleibt ein Kompromiss

Seit Anfang Oktober 2016 haben viele Patienten einen gesetzlichen Anspruch auf einen Medikationsplan. In letzter Minute konnten sich Gesetzliche Krankenversicherungen und Kassenärztliche Bundesvereinigung auf eine Vergütung einigen. Mehr als 160 Millionen Euro können die Ärzte abrechnen.

Seit dem 1. Oktober haben Kassenpatienten, die drei oder mehr Arzneimittel gleichzeitig einnehmen, einen gesetzlichen Anspruch auf einen Medikationsplan. Diese Neuerung ist mit dem „E-Health-Gesetz“ beschlossen worden. Zunächst gibt es den Medikationsplan nur auf Papier, ab 2018 soll er über die Gesundheitskarte abrufbar sein. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) sagt: „Das ist ein großer Schritt nach vorne. Denn wir haben im Jahr etwa 250.000 Menschen, die aufgrund vermeidbarer Fehler bei der Wechselwirkung von Arzneimitteln in Krankenhäuser eingewiesen werden. Das wollen wir wirksam ausschließen.“

Erst kurz vor der Einführung konnten sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und der GKV-Spitzenverband darauf einigen, wie die zusätzliche Arbeit ab sofort vergütet werden soll. Demnach können Ärzte insgesamt jährlich bis zu 163 Millionen Euro bei den Krankenkassen abrechnen. Hausärzte und Pädiater erhalten für chronisch Kranke Patienten automatisch einen Zuschlag. Für Patienten, für die der Medikationsplan erstellt wird, ohne dass die Chronikerpauschale abgerechnet wird, können sie die GOP 01630 als Einzelleistungsvergütung abrechnen. Für die Leistung erhalten die Hausärzte im Jahr 39 Punkte (derzeit 4,07 Euro, ab 2017 dann 4,11 Euro), die extrabudgetär gezahlt werden. Fachärzte können die Erstellung für Krebs- und Schmerzpatienten als Einzelleistung abrechnen (für ca. 4 Euro), für alle anderen ist die Erstellung eines Medikationsplans mit einem kleinen Zuschlag zur jeweiligen Grundpauschale abgegolten.

Während Gröhe den Medikationsplan in seiner jetzigen Form als großen Schritt nach vorn bezeichnet, üben Ärzte Kritik. Sie wollen in Zukunft mehr Geld für die zusätzliche Arbeit. „Das ist eine Vergütung, die die Kollegen draußen zu Recht verärgert. Man darf nicht erwarten, dass bei einer solchen Vergütung die Patientenversorgung oder sogar die Arzneimittelsicherheit in Zukunft besser wird“, sagt KBV-Chef Dr. Andreas Gassen.

Letztlich ist der große Schritt nach vorne also nur der erste Schritt auf einem langen Weg bis hin zu einer gerechten Vergütung. „Der Gesetzgeber hat bei der Umsetzung des E-Health-Gesetzes zwar einen richtigen Ansatz gewählt, der aber nicht konsequent zielführend ist, da er sich lediglich auf die Verantwortlichkeit des Arztes fokussiert“, sagt Lars Lindemann, Hauptgeschäftsführer des Spitzenverbands der Fachärzte (SpiFA). Lindemann bemängelt, dass Apotheker nicht stärker in den Medikationsplan einbezogen werden. Als „Konstruktionsfehler“ bezeichnet Dr. Andreas Kiefer, Präsident der Bundesapothekerkammer, dass die Fachkompetenz der Apotheker nicht stärker eingebunden wird. Er sagt: „Ein Medikationsplan ist sinnvoll, ohne begleitende Medikationsanalyse und kontinuierliches Medikationsmanagement allerdings nur ein erster Schritt.“ Denn bislang dürfen Apotheker den Medikationsplan nur ergänzen und bekommen dafür keine Vergütung.

Unsichere Zeiten für Apotheken

Apotheker sehen sich derzeit von Problemen umzingelt: Lieferengpässe, schlechte Geschäftsentwicklung und Nachwuchsmangel sorgen trotzdem nicht bei allen Apotheken für eine gedrückte Stimmung.

„Versuchen Sie es später noch mal“ – immer häufiger müssen Apotheker ihre Kunden vertrösten, weil sie mit Lieferengpässen zu kämpfen haben. Wie aus der neuen APOkix-Befragung der IFH Köln hervorgeht, an der rund 200 Apothekenleiter teilgenommen haben, verzeichneten zwei Drittel der Apotheker in den vergangenen drei Monaten mehrere Lieferengpässe am Tag. Weitere 22 Prozent gaben an, zumindest einmal am Tag nicht alle bestellten Waren bekommen zu haben. Schuld an der Situation haben aus Sicht der Apotheker vor allem die Pharmaunternehmen (84%), die ihre Waren lieber in andere Länder exportieren, wo sie höhere Erträge erzielen können. Doch auch die Krankenkassen (74%) und die Gesetzeslage (69%) werden für die Engpässe mitverantwortlich gemacht. Die Apotheker rechnen künftig mit keiner Verbesserung – im Gegenteil. Sie gehen davon aus, dass sich die Situation weiter zuspitzen wird.

Besonders ärgerlich für die Apotheker: Sie werden gar nicht oder nur unzureichend von Pharmaunternehmen informiert, wann bestellte Arzneien wieder verfügbar sind. Damit sehen sie ihre Planungssicherheit in Gefahr. Sorgenvoll schauen die Apotheker der APOkix-Umfrage zufolge auch auf die Zahlen zur Geschäftsentwicklung. So sank der Index im September im Vergleich zum Vormonat um 2,3 Punkte auf 79,2 Punkte. Jeder Dritte in der Umfrage bewertet die aktuelle Situation als negativ.

Ein anderes Problem macht der neue Apothekenklima-Index, der 2016 zum ersten Mal herausgegeben wurde, sichtbar: Nachwuchsmangel. Fast die Hälfte der rund 500 befragten Apothekeninhaber (47,1 Prozent) würde in den kommenden zwei bis drei Jahren gern Personal anstellen, doch Nachwuchs fehlt vor allem auf dem Land. Und das obwohl auch fast die Hälfte der Apotheken selbst Personal ausbildet. „Für die Zukunft der Arzneimittelversorgung brauchen wir gut ausgebildete und hoch motivierte Apotheker – nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land. Dazu müssen die Rahmenbedingungen stimmen – dann finden sich auch mehr Bewerber um offene Stellen und Ausbildungsplätze“, sagt der Präsident der Bundesapothekerkammer, Dr. Andreas Kiefer.

Abgefragt wurden in dem Index auch, was die gesundheitspolitischen Prioritäten der Apotheker selbst sind. Demnach wollen auch 75,6 Prozent von ihnen bessere wirtschaftliche Rahmenbedingungen. 73,6 Prozent wünschen sich zudem ordnungspolitische Planungssicherheit und 61,1 Prozent bemängeln die vielen bürokratischen Hürden und wollen einen Abbau.

Trotz allem bleiben die Apotheker im Großen und Ganzen positiv eingestellt. 71,9 Prozent erwarten in den kommenden zwei oder drei Jahren eine gleichbleibende oder sogar etwas bessere wirtschaftliche Situation. Darum wollen auch 57,9 Prozent in neue Räume und technische Einrichtungen investieren.

Zukunftssicherung durch Technologie

Deutschlands Kliniken befinden sich auch trotz Finanzspritze durch die Krankenhausreform vielfach vor der Existenzfrage. Prof. Dr. Hellmann, Hannover, gibt Ratschläge zum zukunftsorientierten Management als Lösung.

Auch oder gerade nach der jüngsten Krankenhausreform stehen die etwa 2000 Kliniken im Fokus kritischer Qualitätsbetrachtung. Gleichzeitig kommen Forderungen, wie die des Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. Andreas Gassen, mindestens 500 Häuser zu schließen. Die niedergelassenen Vertragsärzte könnten es durchaus schaffen, die etwa fünf Millionen zusätzlicher Fälle gut ambulant zu versorgen. Fünf bis sechs Milliarden Euro seien so durch den Abbau überflüssiger Krankenhausbetten einzusparen. Stationäre Ressourcen müssten unter den Häusern umverteilt werden, auch, um beispielsweise Pflegenotstand zu beheben, so Gassen.

Die Äußerungen des KBV-Chefs zeigen, wie sehr sich Krankenhäuser in einem Spannungsfeld konkreter Qualitätserwartung und der Situation als Innovations-Vorreiter in der Versorgung befinden. Wie man Krankenhäuser zukunftssicher managt, hat Prof. Dr. Wolfgang Hellmann, Zentrum für Weiterbildung und Technologietransfer (ZWT) der Fachhochschule Hannover und renommierter Krankenhausmanagement-Experte, jetzt in einem neuen Lehrbuch zusammen mit weiteren Experten dargelegt. Besonderen Wert legte er dabei auf innovative Führungskonzepte, Führungsprogramme für alle Mitarbeitergenerationen und auf Sektoren übergreifende Kooperationen als Chance für das Krankenhaus. Seine These: Entscheider können aufgrund der Heterogenität von Vorschlägen zur Zukunftssicherung der Klinik nicht immer leicht erkennen, welche Lösungen gerade für das eigene Haus relevant sind. Der Blick fürs Wesentliche könne, so Hellmann, bei flutenden Informationen und visionären Lösungen leicht verlorengehen. Unbestritten sei aber eine klare Fokussierung auf innovative Technologien.

Lesetipp: „Krankenhaus zukunftssicher managen“ (Kohlhammer, 2016), Wolfgang Hellmann, Thomas Beushausen, Joachim Hasebrook (Hrsg.), 49 Euro.

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