Berlin-Chemie Newsletter vom 03. Dezember 2019

Berlin-Chemie Newsletter vom 03. Dezember 2019

  • Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz fällt durch
    Bundesrat nimmt Stellung zu Spahns Entwurf
  • Viel Geld löst wenige Probleme
    Droht ein Versorgungssystem auf Pump?
  • Spahn: Der Anspruch lautet Digitalweltmeister
    Eine Weltpremiere, die den Unterschied macht?
  • Sicherheit: Viele Themen, viele Irrtümer?
    Der Nutzer bleibt das Problem
  • Wer soll das bezahlen?
    An der Reform der Pflegeversicherung führt kein Weg vorbei
  • Prävention: Eine Gesamtstrategie soll her
    Starker Anstieg an Diabetes-Erkrankungen in Deutschland
  • Weniger Dokumentation für Ärzte
    Der Bürokratieindex zeigt ein wenig Erleichterung
  • Lieferengpässe bei Arzneimitteln
    So muss das Lösungspaket aussehen


Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz fällt durch    

Auch wenn das Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz (GKV-FKG) im Bundesrat nicht zustimmungspflichtig ist, könnte der Druck der Länder dafür sorgen, dass der Finanzausgleich verwässert wird.

Sie ist längst überfällig – die Reform des Finanzausgleiches unter den Krankenkassen. Um sie schnellstmöglich durchzubekommen, hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zuletzt bereits eingelenkt und auf die von ihm vorgeschlagene bundesweite Öffnung der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) verzichtet. Das reicht den Ländern offenbar nicht aus, der Bundesrat nimmt das Gesetz in einer 31-seitigen Stellungnahme auseinander. Ein wichtiges Vorhaben des GKV-FKG ist es, die Manipulieranfälligkeit des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) zu verbessern – und zwar mit einer neuen Befugnis des Verordnungsgebers, den Ausschluss von Morbiditätsgruppen mit den höchsten relativen Steigerungsraten im Verfahren des RSA zu regeln. Der Bundesrat begrüße zwar grundsätzlich dieses Ziel, hält aber die geplante Regelung für übertrieben. Sie schieße „weit über das eigentliche Ziel hinaus, mittels Vergütungsanreizen ausgelöste Kodiermanipulationen und dadurch entsprechende Anstiege bestimmter kodierter Diagnosen bei den Finanzzuweisungen über den Morbi-RSA zu verhindern“. „Durch die im Jahr 2017 im Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz getroffenen Regelungen zur Verhinderung von Kodiermanipulationen konnten bereits gute Ergebnisse erzielt werden“, heißt es seitens des Bundesrates. Zudem zeige die im Morbi-RSA erfasste Morbidität gemäß den zuletzt vorliegenden Jahresausgleichen keinen Anstieg mehr, der als auffällig beschrieben werden müsste, meint der Bundesrat und erklärt: „Auch vor dem Hintergrund der geplanten Einführung des Vollmodells bei der Krankheitsauswahl im Rahmen des GKV-FKG sowie im Hinblick auf die bereits mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz in § 295 Absatz 4 SGB V vorgegebene Einführung allgemeiner Kodierrichtlinien (AKR) ist eine solche Regelung nicht mehr erforderlich, sondern erzeugt tendenziell unnötigen und vermeidbaren bürokratischen Aufwand.“ Der Bundesrat plädiert außerdem für eine höhere Obergrenze für das Finanzvermögen, sie „kann die erwarteten finanziellen Belastungen der kommenden Jahre besser und länger abfedern, so dass auch dem gesetzlichen Auftrag zur Beitragssatzstabilität Rechnung getragen werden könnte“. Speziell zum Morbi-RSA heißt es weiter: „Wenngleich die genauen finanziellen Effekte für einzelne Krankenkassen hieraus bislang nicht hinreichend konkret abgesehen werden können, ist doch insgesamt zu erwarten, dass insbesondere den ,Versorgerkassen‘ mit hoher Morbidität in der Versichertenstruktur weniger Finanzmittel aus dem Gesundheitsfonds über den M-RSA zugewiesen werden. Auch diese Entwicklung könnte durch höhere Finanzreserven abgemildert werden.“ Die von Spahn vorgesehene, bessere Zusammenarbeit zwischen Landesaufsichten und dem BVA passt dem Bundesrat ebenfalls nicht. Dazu heißt es: „Die jeweils betroffene Krankenkasse und die beteiligten Vertragspartner müssen sich darauf verlassen können, dass sie einer durch die Aufsicht erteilten Genehmigung oder Nichtbeanstandung vertrauen können. Der Anreiz für diese Art der Verträge, die für die regionale Versorgung von großer Bedeutung sind, darf nicht durch potenzielle rückwirkende nachteilige Neuregelungen und Rechtsfolgen nach RSA-Prüfung konterkariert werden.“

Während die Länder nun gegen Spahns Pläne poltern, haben sich erneut mehrere Betriebs-, Ersatz- und Innungskrankenkassen zusammengeschlossen und in einem gemeinsamen Brief an die Ministerpräsidenten für Spahns Pläne geworben. Sie machten auf die enormen finanziellen Unwuchten im System aufmerksam. Dem aktuellen Stand nach fehlen den Ersatzkassen über 1 Milliarde Euro, den Betriebskrankenkassen 319 Millionen Euro und den Innungskrankenkassen 178 Millionen Euro in 2018 für die Versorgung ihrer Versicherten. Die Unterzeichner erklärten: „Die Gesamtmaßnahmen des GKV-FKG zur Reform des RSA sind daher richtig und wichtig, damit die Beitragsgelder wieder dorthin fließen, wo sie für die Versorgung benötigt werden.“ Die im Bundesrat geforderten Änderungen würden die Wirkung vieler notwendiger Maßnahmen aushebeln, fürchten die Kassen. Der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, Erwin Rüddel (CDU), warnte im Handelsblatt vor dem Verwässern der Reform und sagte: „Nach meiner Meinung darf es an dem Gesetzentwurf keine nennenswerten Veränderungen mehr geben, wenn wir einen fairen Ausgleich zwischen den Krankenkassen herbeiführen wollen.“


Viel Geld löst wenige Probleme    

Dass die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) über den Gesundheitsfonds durch Negativzinsen aktuell jährlich Geld in Millionenhöhe (2018 = 9,2 Millionen Euro) verschwendet, ist ärgerlich. Die Finanzstabilität der Gesetzlichen Krankenversicherung leidet darunter aber nicht. Vielmehr bringt der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Finanzköpfe der Kassen ins Schwitzen.

Die Vorwürfe, dass die gesetzlichen Krankenkassen auf ihren Milliarden sitzen und die Rücklagen von Jahr zu Jahr weiter über die vorgeschriebene Mindestreserve hinaus steigen, könnten bald der Vergangenheit angehören. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will aus den Rücklagen der Gesetzlichen Krankenversicherung – laut GKV-Schätzerkreis sind das zum kommenden Jahreswechsel rund 10,3 Milliarden Euro – die Finanzierung einer ganzen Reihe an Maßnahmen für die nächsten Jahre sicherstellen. Bis 2024 soll der Gesundheitsfonds um mehr als 5,2 Milliarden Euro schrumpfen, wie es aus einem Papier des Ministeriums, das der Partei DIE LINKE übermittelt wurde und über das der Tagesspiegel berichtete, hervorgeht. Weil die Kassen dann schon bald Probleme mit der Einhaltung der Mindestreserve (eine Viertel-Monatsausgabe) bekommen würden, senkt die Politik die Untergrenze auf 20 Prozent ab. Verankert wurde dies im „Betriebsrentenfreibetragsgesetz“, welches das Bundeskabinett Mitte November verabschiedet hat. Die darin geplanten Maßnahmen sind gleichzeitig für den größten Rücklagenabbau verantwortlich: Um 1,2 Milliarden Euro allein in 2020 sollen die versprochenen Freibeträge für Betriebsrentner den Gesundheitsfonds leeren. In den darauffolgenden Jahren sollen weitere 900 Millionen Euro (2021), 600 Millionen Euro (2022) und 300 Millionen Euro (2023) aus dem Fonds entnommen werden.

Bis zu 500 Millionen Euro sollen zudem von 2020 bis 2022 jährlich in den Krankenhaus-Strukturfonds fließen. Finanziert werden sollen damit unter anderem Abwehrmaßnahmen gegen Hacker-Angriffe, der Aufbau zentraler Notfallstrukturen und mehr Ausbildungsplätze für Krankenpflegeberufe. Der beim Gemeinsamen Bundesausschuss angesiedelte Innovationsfonds schlägt in den kommenden vier Jahren jährlich mit weiteren 100 Millionen Euro zu Buche. Darüber hinaus sollen 225 Millionen Euro aufgewendet werden, um die Mehrausgaben der Kassen, die durch den neuen Rechnungszuschlag auf Klinikabrechnungen für im Jahr 2020 aufgenommene Patienten entstehen, auszugleichen.
Das deutsche Gesundheitswesen hat einen massiven Reformdruck. Durch Kompromisslösungen und teils jahrzehntelange Reformverzögerungen arbeitet das Gesundheitssystem hierzulande zwar auf einem hohen, aber auch ineffizienten und teurem Niveau. Dass ein Systemwandel Geld kosten wird, ist nicht verwunderlich. Dass Minister Spahn die großen Versprechen von einer besseren Versorgung für alle Bürger auf Kosten der Finanzstabilität des Systems finanziert, ist ebenfalls nicht verwunderlich. Die langfristige Finanzierung wird zur Herausforderung seiner Nachfolger – und, im Falle von notwendigen Erhöhungen der GKV-Beitragssätze, zur Herausforderung und Last der künftigen Versicherten. Für Spahn zählt nur das Resümee seiner Amtszeit, die das Fundament für noch höhere politische Ziele sein soll. Damit setzt sich der konservative Spahn auch über die traditionell ausgabenscheue Schwarze-Null-Politik seiner Fraktion hinweg.


Spahn: Der Anspruch lautet Digitalweltmeister    

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat in Berlin seine Digital-Ambitionen verteidigt und seinerseits Kritik an den Kritikern seiner Datennutzungsregelung für Forschungszwecke geäußert.

„Ich möchte, dass wir den Anspruch haben, Digitalweltmeister zu sein“, äußerte sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn unlängst bei einer Branchenveranstaltung. Der Minister möchte mit Deutschland international aufschließen, am liebsten sogar zum internationalen Vorreiter in Sachen Digitalisierung werden. Dabei ist ihm eine schnelle Umsetzung der Vorhaben wichtig. „Deshalb denken wir in jedem Gesetz Digitalthemen mit. Wir hätten auch zwei Jahre warten können und dann ein riesiges Digitalgesetz machen können. Das wäre aber nicht gut für eine schnelle Umsetzung gewesen“, so Spahn in Berlin. Die elektronische Patientenakte (ePA) ab 2021 sei eine „große Aufgabe“. „Datenschutz und Datensicherheit müssen auf höchstem Stand geregelt sein, aber der Rest, das sage ich Ihnen jetzt schon, wird noch nicht perfekt sein. Wir starten mal mit einer Anwendung, die schon etwas kann, und machen es dann im Prozess besser“, skizzierte der Minister den weiteren Weg der ePA. Gleiches gelte für die Nutzenbewertung der Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA). Auch diese werde „nicht sofort perfekt“ sein. „Wir müssen auf der Strecke miteinander lernen, wie man einen Zusatznutzen misst und bewertet“, so der CDU-Politiker. Es sei eine Weltpremiere, dass digitale Anwendungen, denen ein Nutzen zugesprochen wurde, im gesetzlichen System erstattungsfähig werden. „Das macht für Startups einen gewaltigen Unterschied, wenn sie auf einmal einen Markt von 70 Millionen Versicherten haben.“

Viele Digitalprediger sehen als nächsten großen Innovationssprung die Integration von hilfreichen Algorithmen in der Versorgung. Damit Anwendungen, die auf Künstlicher Intelligenz und Algorithmen basieren, funktionieren können, müssen diese mit unzähligen Daten trainiert werden. Das ist in Deutschland ein Problem, wie die aktuelle Debatte um die Datennutzung zeigt. Minister Spahn vertritt eine klare Meinung: „Abrechnungsdaten dürfen seit 15 Jahren für Forschungszwecke genutzt werden – aber erst nach vier Jahren. Künftig sollen die Daten schneller und ein Stück umfänglicher Forschungsinstituten, die einen Antrag gestellt haben, anonymisiert zur Verfügung gestellt werden.“ Die Kritik weist er zurück: „Am Rahmenwerk haben wir sonst nichts geändert. Es geht nicht um Behandlungsdaten. Wenn ein solches Konstrukt so diffamiert werden kann, dann haben wir es echt schwierig und kommen nicht aus dem Mittelfeld heraus. Wir können über die Datennutzung ethisch trefflich streiten. Wir sollten aber auch einmal über die Daten-Nicht-Nutzung trefflich streiten.“


Sicherheit: Viele Themen, viele Irrtümer?    

Die Verunsicherung unter Ärzten ist groß: Wird der Konnektor in der Praxis zum Sicherheitsrisiko, für das die Ärzte dann haften müssen? Die Gematik behauptet, dass das Gegenteil der Fall ist.

In der endlosen Debatte über die Sicherheit der Telematik-Infrastruktur wird unglaublich viel durcheinander geworfen. Die Sicherheit der IT, der Informationstechnik in den Praxen, wird häufig mit der Sicherheit der Telematik-Infrastruktur verwechselt. Arztpraxen und Krankenhäuser sind bereits deutlich über ein Jahrzehnt mit dem Internet verbunden, häufig mit veralteten Betriebssystemen, veralteten Schutzprogrammen und veralteten Treibern. Dies ist ein ernstes Problem der IT-Sicherheit; ein Einfallstor für Sicherheitsrisiken, das schon seit Jahren existiert. „Wir haben nicht nur Umsetzungs- sondern auch Erkenntnisdefizite bei der IT-Sicherheit. Bei der Mehrheit unserer Klinik-Kunden ist das Thema Sicherheit mit der Umsetzung von Datenschutzgrundverordnung und KRITIS-Anforderungen abgehakt. Das kann aber nur der Anfang sein“, so Holger Müller, Business Solution Architect bei Cisco Systems. Zertifizierte Sicherheitssoftware alleine sei ebenfalls nicht ausreichend. „Es gibt keine Technologie, die davor schützt, dass ein Arzt oder Klinikmitarbeiter auf einen Link in einer Mail klickt. Das müssen wir akzeptieren“, so Müller bei einer Podiumsdiskussion in Berlin. Gegen eine unbedachte Nutzung helfe das Schulen, Sensibilisieren und Schaffen eines Sicherheitsbewusstseins. Ein parallel installierter Konnektor, der die IT-Systeme medizinischer Einrichtungen mit der Telematikinfrastruktur verbindet, ändere nichts am Schutzniveau des bestehenden Internetzugangs, heißt es seitens der Gematik. Im Parallelbetrieb sind alle Komponenten wie Computer und Kartenterminal eines Praxisnetzwerks direkt hinter der Internetanbindung am Router angeschlossen. Der Konnektor wird „parallel“ zum restlichen Netzwerk angeschlossen und fungiert nicht als Firewall im Netzwerk. Aber auch ein „in Reihe“ installierter Konnektor ersetzt laut Gematik keine der üblichen Maßnahmen, die jeder Internetnutzer selbst ergreifen muss, um sich sicher im Internet zu bewegen. Im Reihenbetrieb kapselt der Konnektor alle Verbindungen zwischen Internet (Secure Internet Service) und TI vom Praxisnetzwerk ab. Durch die integrierte Firewall wird dabei nicht nur die TI vor Angriffen von außen geschützt, sondern auch das gesamte Netzwerk der Praxis. Die Gematik spricht vom Konnektor als die „sicherste Komponente in der gesamten Praxis“.

In Krankenhäusern, so Müller, werde die IT-Sicherheit oft als Thema der IT-Abteilung gesehen, sei aber eine Aufgabe aller Akteure – vor allem von Unternehmensführung und Anwendern. Das Thema Sicherheit von Programmen, Systemen und Verbindungen wird künftig noch wichtiger werden. In absehbarer Zeit soll der Einsatz Künstlicher Intelligenz die ärztliche Versorgung effizienter gestalten. Doch während sich ein einfaches Medizinprodukt bis zur nächsten Produktgeneration nicht verändert, entwickelt sich ein mit Daten gefütterter Algorithmus weiter. Bisher gibt es keine wirkliche gesetzliche Lösung, wie eine KI-Lösung sinnvoll zertifiziert wird. Eine CE-Zertifizierung bei der Zulassung ist für ein Produkt, das sich verändern soll, nicht adäquat. „Wir brauchen für KI ein anderes Rechtsystem“, meint der Anwalt Dr. Gunnar Sachs von Clifford Chance. Auch die Herkunft der Systeme muss bedacht werden. In China und den USA ist der Umgang mit Daten häufig ein anderer. „Wir glauben sehr stark daran, dass Künstliche Intelligenz mit Augenmaß und europäischen Werten entwickelt werden sollte. Die Qualität der Systeme muss sichergestellt werden“, äußerte Dr. Thomas Friese, Senior Vice President Digital Platform bei Siemens Healthineers, kürzlich in Berlin.
Datensicherheit und Datenschutz werden immer wieder in der öffentlichen Debatte durcheinander geworfen. „Wenn jemand einen Server betreibt, den wahrscheinlich sogar ich hacken könnte, dann ist das ein Problem der Datensicherheit“, äußerte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bereits auf mehreren Veranstaltungen. Die größte Gefahr für die Sicherheit der Daten geht also vom Anwender selbst aus. Daran wird auch der Rollout der Telematik-Infrastruktur nichts ändern.


Wer soll das bezahlen?    

An Vorschlägen, wie die soziale Pflegeversicherung umgebaut werden kann, fehlt es nicht. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will seine Finanzierungsvorschläge bis Mitte 2020 vorlegen.

Steuerzuschüsse, Beitragserhöhungen und private Vorsorge – diese Stichworte fallen gerade alle parallel, wenn es um die Umgestaltung der sozialen Pflegeversicherung (SPV) geht. Neueste Auswertungen des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigen, dass der Handlungsdruck zunimmt. Der Eigenanteil zur Pflege schnellt seit Jahren in die Höhe. Im Vergleich zum Vorjahr ist er deutschlandweit um 17 Prozent auf durchschnittlich 693 Euro gestiegen. Besonders dramatisch fiel der Anstieg in Mecklenburg-Vorpommern aus; dort schnellten die Zuzahlungen um satte 78 Prozent von 292 Euro pro Monat 2018 auf nun 520 Euro nach oben. In der Bundeshauptstadt lag die Steigerung zwar nur bei 8,8 Prozent, dafür liegen die Kosten, die Pflegbedürftige aus eigener Tasche bezahlen müssen, bereits bei 919 Euro. Rechnet man die Kosten für Unterkunft, Verpflegung und Investitionen noch dazu, müssen die Deutschen durchschnittlich 1900 Euro für einen Pflegeheimplatz bezahlen. Höchste Zeit zu handeln, meint Kordula Schulz-Asche, Sprecherin für Alten- und Pflegepolitik beim Bündnis 90/Die Grünen: „Jetzt muss auch Minister Spahn zur Kenntnis nehmen, dass seine vermeintliche Turbo-Politik inzwischen als finanzieller Tsunami bei den pflegebedürftigen Menschen ankommt. Eine umfassende Reform der Pflegefinanzierung ist unausweichlich und längst überfällig“, sagte Kordula Schulz-Asche, Sprecherin für Alten- und Pflegepolitik. Wie diese aussehen könnte, dafür gibt es viele Ideen. Da ist zum Beispiel die Idee vom Sockel-Spitze-Tausch, die Prof. Heinz Rothgang, Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Bremen, ins Rennen geschickt hat. Dabei würde der Eigenanteil abgesenkt und bei einem Sockelbetrag von 471 Euro je Leistungsbezieher und Monat eingefroren werden. Der Beitrag zur Pflegeversicherung würde den neuesten Berechnungen zufolge dann auf maximal 5,6 Prozent im Jahr 2045 steigen. Eingepreist sind hier bereits die angekündigten Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Langzeitpflege, die sich besonders auf die Erhöhung der Personalmenge und eine Angleichung des Lohnniveaus zwischen Akut- und Langzeitpflege beziehen.

Das Institut der deutschen Wirtschaft hat unterdessen ein Konzept vorgelegt, das Kapitaldeckung als zusätzliches Finanzierungselement einbezieht. Ein ähnliches Modell wünscht sich auch der PKV-Verband. Eine Pflegebürgerversicherung, mit der der Eigenanteil auf 0 Euro sinkt, sehen hingegen eine Reihe von Sozialverbänden und auch Ver.di als die richtige Antwort auf die Reformfrage. Auch das hält Prof. Rothgang für machbar – allerdings nur, wenn die Beitragssätze entsprechend steigen. Eine neue Studie von Bertelsmann rechnete genauer vor, welche Optionen bleiben. Die Lieblingsvariante der Studienautoren sieht eine Erhöhung des Beitragssatzes ab 2020 auf 3,5 Prozent und eine Unterstützung mit Steuermitteln vor. Anfangs mit 9,6 Milliarden Euro, bis 2050 sollten diese dann auf 24,5 Milliarden erhöht werden. Die zunächst überschüssigen Mittel fließen in den bereits existierenden Pflege-Vorsorgefonds und sollen langfristig dafür sorgen, den Beitragssatz bis 2050 stabil bei 3,5 Prozent zu halten. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat angekündigt, bis Mitte 2020 eigene Vorschläge zur Finanzreform der SPV vorzulegen. Denkbar ist eine Mischung aus mehreren Varianten.

Prävention: Eine Gesamtstrategie soll her    

Die Nationale Diabetesstrategie soll 2020 noch vor dem Herbst vorgestellt werden und anschließend als Blaupause für eine Gesamtstrategie dienen.

Aus neuen Zahlen der International Diabetes Federation (IDF) geht hervor, dass gegenüber den 2017 veröffentlichten Daten weltweit 38 Millionen Erwachsene zusätzlich an Diabetes erkrankt sind. Deutschland gehört inzwischen zu den zehn Ländern mit der höchsten absoluten Zunahme der Diabetesprävalenz (15,3 Prozent - ein Anstieg um 25 Prozent gegenüber 2017). In absehbarer Zeit wird die Zahl der an Diabetes erkrankten Menschen in Deutschland die 10-Millionen-Marke passieren. Medizinische Fachgesellschaften und gemeinnützige Organisationen kritisieren bereits seit Längerem, dass die im Koalitionsvertrag festgehaltene „Nationale Diabetesstrategie“ auch nach 20 Monaten noch immer nicht vorliegt. Im kommenden Jahr soll es endlich soweit sein. Erwin Rüddel (CDU), der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, geht davon aus, dass sie vor dem Herbst 2020 fertig ist. „Wir müssen uns auch darauf konzentrieren, ein gesundheitsförderndes Umfeld zu schaffen, das es den Menschen ermöglicht, die gesunde Wahl zur leichteren Wahl zu machen“, fordert Dr. Jens Kröger, Vorstandsvorsitzender von diabetesDE - Deutsche Diabetes- Hilfe. Wie dies geschehen soll, darüber gibt es Diskussionen. Eine Verbotspolitik lehnt Christine Aschenberg-Dugnus, gesundheitspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion ab. „Wenn wir Schokoriegel verbieten oder den Preis von 0,80 Cent auf 1 Euro erhöhen, dann geht doch niemand davon aus, dass dann keine Schokoriegel mehr gegessen werden. Ich bin kein Freund von Verboten. Ich bin ein Freund von Anreizen.“ Für mehr Verhältnisprävention spricht sich Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Bündnis 90 / Die Grünen) aus. Dafür müsse jedoch die richtige Infrastruktur vorhanden sein. Wenn es einen guten Fahrradweg gibt, dann ist es wahrscheinlicher, dass Menschen mit dem Fahrrad fahren. Man muss ein gesundes Leben einfach und bequem machen“, so Kappert-Gonther, Sprecherin für Gesundheitsförderung der Fraktion.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will auf eine Gesamtpräventionsstrategie des Bundes setzen, die, so sagte er bei einer Veranstaltung in Berlin, die eigentliche Ursache stärker in den Blick nehmen und auf den Lebenswelten Ernährung und Bewegung aufbauen soll. Die Nationale Diabetesstrategie soll als Startrampe für den großen Überbau dienen. Den von Fachgesellschaften geforderten zusätzlichen Präventionsstrategien zu Bluthochdruck und Adipositas erteilte er eine Absage. Im kommenden Jahr soll auch die Diskussion der Reform des Präventionsgesetzes erfolgen. „Es ist immer einfacher die Behandlung und die Erfolge der Behandlung zu messen als die Vermeidung von Krankheiten“, so Spahn zur Bestandsaufnahme des aktuellen Präventionsgesetzes. Künftig, so deutete Spahn an, soll es Arbeitgeber leichter gemacht werden, sich aus ihrem Eigeninteresse für die Gesundheit der Mitarbeiter einzusetzen. Regionale Module müssten dafür leicht abrufbar sein. „Auch der Bäckerbetrieb mit acht Angestellten oder der Pflegedienst mit 20 Angestellten müssen Möglichkeiten bekommen, um ihren Angestellten entsprechende Angebote zur Gesundheitsvorsorge zu machen“, so Spahn. Die Vorgaben zur Prävention müssten zudem realistisch umsetzbar sein. „Wir können etwas ins Gesetz schreiben, aber es muss auch vor Ort gelebt werden können“, so Spahn weiter. Neben einer bisher mangelhaften Prävention von Diabetes und Folgeerkrankungen gibt es ein weiteres Problem: Diabetes-Betroffene sehen sich nicht selten einer Stigmatisierung und Diskriminierung ausgesetzt. Das beginnt im Schulalter, wenn Diabetiker nicht mit auf Klassenfahrt dürfen, weil sich die Lehrer im Ernstfall der Situation nicht gewachsen sehen. Auch Erwachsene treffen auf Barrieren. „Es gibt in bestimmten Berufsbildern – zum Beispiel im Luftverkehr – noch Jobs, die mit Diabetes in Deutschland nicht ausgeübt werden dürfen. Mit den neuen therapeutischen Möglichkeiten ist das nicht mehr zeitgemäß“, so Dr. Kurt Rinnert, Facharzt für Arbeitsmedizin & Diabetologie und Kurator der Deutschen Diabetes Stiftung. Andere Länder seien hier weiter.

Weniger Dokumentation für Ärzte    

Unstrittig ist, dass Ärzte zu viel Zeit in ihre Dokumentations- und Informationspflichten stecken. Doch der neue Bürokratieindex zeigt zumindest eine positive Tendenz.

Der Bürokratieaufwand ist in den Arzt- und Psychotherapeutenpraxen leicht zurückgegangen. Trotzdem verbringen sie immer noch etwa 60 Tage im Jahr mit Verwaltungsaufgaben. Die größte zeitliche Belastung bringen Verordnungen und Bescheinigungen mit sich. Für einen Anstieg der Bürokratielast hat in diesem Jahr vor allem die Dokumentation beim Hautkrebsscreening gesorgt. Dabei sind mehr als 32.000 Stunden hinzugekommen. Schuld ist ein Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), der Dermatologen dazu zwingt, mehr Parameter als früher zu dokumentieren. Entlastend hingegen wirkte der Wegfall des Ausfüllens und Archivierens des Berichtsvordrucks „Gesundheitsuntersuchung“. Auch hier hat der G-BA gewirkt und eine Richtlinie geändert. Dadurch sind laut Report 500.000 Stunden Aufwand weggefallen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung wünscht sich einen weiteren Abbau der Arztbelastung, schließlich haben die Studienautoren auch herausgefunden, dass die Bürokratie für junge Ärzte und Therapeuten ein enormes Niederlassungshemmnis ist. Doch was ist nun zu tun? Die Digitalisierung biete viel Entlastungspotenzial, meint KBV-Vorstandsmitglied Dr. Thomas Kriedel. Doch man müsse genau hinsehen, wo man sie wie nutzt. Die vom Gesetzgeber gewollten elektronischen AU-Bescheinigungen etwa stellen aktuell eher eine Zusatzbelastung dar. Denn neben der elektronischen Variante muss auch weiterhin ein Papierdruck erfolgen. Auch die Umsetzung der elektronischen Signatur, die etwa beim eRezept ab Mitte 2020 erforderlich ist, sieht Kriedel aktuell nicht durchweg positiv. „Das kostet vor allem Zeit“, bemängelt er und wünscht sich eine Komfortsignatur, mit der mehrfach Unterschriften möglich werden.

Lieferengpässe bei Arzneimitteln    

Lieferengpässe bei Arzneimitteln müssen nicht sein, meint die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA). Mit einem Acht-Punkte-Papier zeichnet der Verband Lösungswege vor.

„Die Lieferengpässe in den Apotheken nehmen immer größere Ausmaße an“, klagt ABDA-Präsident Friedemann Schmidt. Das Deutsche Arzneiprüfungsinstitut (DAPI) der ABDA hatte eine Studie vorgelegt, die alle Rabattarzneimittel auf ihre Verfügbarkeit in den vergangenen Jahren analysiert hat. Das Ergebnis: Die Anzahl der nicht verfügbaren Rabattarzneimittel hat sich von 4,7 Millionen in 2017 auf 9,3 Millionen Packungen in 2018 verdoppelt. Friedemann Schmidt sagt: „Der zeitliche und organisatorische Mehraufwand für das pharmazeutische Personal, um Alternativmedikamente vom Großhandel zu beschaffen oder Rücksprache mit dem Arzt zu halten, ist nur eine Seite des Problems. Wenn Patienten mit ständig wechselnden Präparaten konfrontiert oder auf einen anderen Wirkstoff umgestellt werden müssen, führt das zu großer Verunsicherung und kann das Therapieergebnis verschlechtern.“

Das sind seine Lösungsansätze der ABDA:
1. Lieferengpässe müssen vom pharmazeutischen Unternehmen und Großhandel verpflichtend bekanntgegeben werden.
2. Sämtliche Akteure müssen in ein zentrales Informationssystem eingebunden werden.
3. Mehrfachvergaben von Rabattverträgen mit mehreren Wirkstoffherstellern sind vorzuschreiben.
4. Die Produktion von Wirkstoffen und Arzneimitteln soll unter hohen Umweltschutz- und Sozialstandards wieder verstärkt in der EU stattfinden.
5. Für Patienten dürfen durch Lieferengpässe keine höheren Aufzahlungen wegen Festbeträgen und Zuzahlungen entstehen.
6. Apotheken brauchen definierte Spielräume beim Management von Lieferengpässen und Rechtssicherheit vor Retaxationen.
7. Der Mehraufwand in Apotheken muss honoriert werden.
8. Exporte von versorgungsrelevanten Arzneimitteln sollen bei Lieferengpässen beschränkt werden können.

Während die Qualitätsanforderungen auf der einen Seite immer weiter steigen, stehen auf der anderen Seite die extrem regulierten Niedrigpreise. Der mittlere Preis für ein Generikum in Deutschland liegt aktuell bei sechs Cent pro Tagestherapiedosis, erklärt der Branchenverband Pro Generika. Dieser hat nun das IGES-Institut mit einer Studie beauftragt, mit der ein Zusammenhang zwischen dem Rabattvertragsmodell und Lieferproblemen von Arzneimitteln untersucht werden soll. Vor allem gesetzliche Krankenversicherungen haben diesen Zusammenhang in letzter Zeit gerne relativiert. Einige Krankenkassen gaben an, dass der Anteil der nicht verfügbaren Wirkstoffe bei 0,6 Prozent liege. Die einzige Apothekerin im Deutschen Bundestag, Sylvia Gabelmann (DIE LINKE), fordert: „Wir müssen eine größere Vorratshaltung für wichtige Medikamente verpflichtend einführen, und zwar nicht nur bei den Apotheken, sondern vor allem auch bei den Herstellern.“ Sie will die Pharmaindustrie verpflichten, existierende oder auch bereits drohende Lieferschwierigkeiten zu melden. Mit einem fachfremden Änderungsantrag für das Faire-Kassenwettbewerb-Gesetz (GKV-FKG) soll das Problem nun auch politisch angegangen werden. Vorgesehen ist die Umsetzung der in Art. 63 Abs. 3 der RL 2001/83 EG vorgesehenen Möglichkeit, für die zuständigen Behörden bei drohenden oder bestehenden Lieferengpässen von der Verpflichtung der Kennzeichnung und Etikettierung in deutscher Sprache abzusehen. Darüber hinaus wird der schon vorhandene Jour Fixe gesetzlich in Form eines Beirats zu versorgungsrelevanten Lieferengpässen bei Arzneimitteln bei den Bundesoberbehörden verankert werden und eine Ermächtigungsgrundlage geschaffen werden, damit die Bundesoberbehörden vorsorglich zur Vermeidung sowie im Falle eines versorgungsrelevanten Lieferengpasses geeignete Maßnahmen anordnen können. Daneben sieht der Änderungsantrag die Verpflichtung zur Übermittelung der vollversorgenden Großhändler und pharmazeutischen Unternehmer, den Bundesoberbehörden Informationen zu verfügbaren Beständen, Absatzmengen und drohenden Lieferengpässen von versorgungsrelevanten Arzneimitteln vor. Nicht zuletzt soll die bedarfsgerechte Versorgung der gesetzlich Versicherten mit rabattierten Arzneimitteln durch einen erweiterten Austausch durch die Apotheke erfolgen.

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