Berlin-Chemie Newsletter vom 29. Januar 2020

Berlin-Chemie Newsletter vom 29. Januar 2020

  • DiGA: Das sind die Anforderungen
    Großes Vertrauen in Anbieter bei Umgang mit Daten
  • Fehlender Wettbewerb und Innovation: Das passt nicht!
    Kassenchef vergleicht Gesundheitssystem mit Arztserie
  • Organspende-Regelung: Kein Zwang zum Widerspruch
    Bundestag hat entschieden – Dennoch scheint die Diskussion keineswegs beendet
  • Immer mehr Arztsitze in Investorenhand
    Fachärzte, Kassen und Politik sorgen sich um Qualität der Versorgung
  • Real World Data: Wo steht Deutschland?
    Studien bilden Realität nicht ab – Register als Chance?
  • Ärzte-Befragung zeigt: Reformen kommen in der Praxis nicht an
    Bürokratiebelastung steigt, Arbeitsbelastung ebenfalls
  • Angehende Mediziner haben Wissensdefizite bei Ernährung
    Ernährung spielt in der Ausbildung nur eine Randrolle


DiGA: Das sind die Anforderungen    

Der lang ersehnte Entwurf der Verordnung zu den Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) ist da. Die Themen Datenschutz und Datenweitergabe sind wieder einmal umstritten.

Endlich ist der Entwurf zur DiGAV da, der „Digitalen-Gesundheitsanwendungen-Verordnung“, und die App auf Rezept, die Deutschland laut Bundesgesundheitsminister Jens Spahn weltweit zu einem digitalen Gesundheitsvorreiter machen soll, könnte damit bald Wirklichkeit werden. Der Entwurf des Bundesministeriums für Gesundheit umfasst inklusive Erläuterungen gut 80 Seiten. Ein Viertel davon sind zwei Fragebögen, die Anbieter digitaler Gesundheitsanwendungen ausfüllen müssen, wenn sie sich beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) als erstattungsfähige DiGA listen lassen wollen. „Wir hören, dass die Anforderungen viel zu niedrig oder viel zu hoch sind“, betonte jüngst Prof. Dr. Karl Broich, Präsident des BfArM, in Berlin. „Die Anforderungen an ein Tagebuch sind natürlich niedriger als an therapeutische Leistungen.“ Den Goldstandard randomisierter klinischer Studien (RCT) hält Broich, der das gestufte Modell verteidigt, für den „völlig falschen Ansatz für diese Produkte, wenn wir Geschäftsmodelle hinbekommen wollen“. „Wir kippen das Kind nicht mit dem Bade aus. Wir starten vorsichtig mit Klasse I/IIa-Produkten“, so Broich. Mit den Klassifizierungen IIb und III wolle sich das BfArM mittelfristig auseinandersetzen. Die Gebühren für einen Antrag sollen zwischen 3000 und 9900 Euro liegen. Bei der Antragstellung muss sich der Anbieter entscheiden, ob er bereits über ausreichend Belege für den Nutzennachweis verfügt und somit eine dauerhafte Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis beantragen kann, oder ob in der einjährigen vorläufigen Aufnahme der Nutzennachweis erbracht werden soll. Letzteres setzt mindestens eine Pilotstudie voraus; die Pilotphase lässt sich um maximal ein Jahr verlängern. Der Nutzen soll über „vergleichende Studien“ nachgewiesen werden, wobei die Studienergebnisse in aller Vollständigkeit im Internet zu veröffentlichen sind. „Es wird uns unterstellt, dass sich jeder einfach auf die Liste setzen lassen kann. Wir winken da nicht einfach jemanden durch. Klar ist auch, dass wir den Daumen ab und zu senken müssen“, so Broich. Beim Nachweis der „positiven Versorgungseffekte“ stehen den Anbietern verschiedene Türen offen. Diese Verbesserung kann beispielsweise medizinisch den Gesundheitszustand betreffen, eine Verkürzung der Krankheitsdauer herbeiführen oder das Überleben verlängern. Aber auch eine bessere Koordination der Behandlungsabläufe, eine Stärkung der Adhärenz oder Gesundheitskompetenz werden unter anderem als Strukturverbesserungen akzeptiert.

In dem Fast-Track-Verfahren wird eine Benennung des Preises bereits bei der Antragstellung verlangt. Broich berichtet, dass das BfArM Anrufe aus den USA gehabt hätte, bei denen sich Hersteller teils mehrere hundert Dollar monatlich vorgestellt hätten. Das sei nicht realistisch. „Weil die DiGAV so polarisierend ist, haben wir das wohl ganz gut getroffen und ausbalanciert“, meint auch Christian Klose, Leitung der BMG-Unterabteilung „gematik, Telematikinfrastruktur, E-Health“. Es sei aber nicht damit getan, dass es eine Rechtsverordnung, eine Rahmenvereinbarung und Apps gebe. Die DiGAs müssten auch von den Ärzten akzeptiert werden und diesen ermöglicht werden, die richtigen Apps für den jeweiligen Patienten auszuwählen. Der DiGA-Leitfaden soll Ende März abgeklärt vorliegen. Ein Stellungnahmeverfahren zum Leitfaden wird es laut Klose nicht geben. Feedback sei aber erwünscht und werde bei der Weiterentwicklung des Leitfadens berücksichtigt. Das Thema Datenschutz und Datenweitergabe sei bis jetzt „nach Treu und Glauben“ angelegt, so Broich. In einem der beiden Fragebögen müssen die Anbieter Angaben zu Datenschutz und Datensicherheit machen, wobei maßgeblich die Einhaltung der europäischen Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO) als Grundlage dient. Daten dürfen laut Verordnungsentwurf nicht zu Werbezwecken verarbeitet werden; eine Liste beschreibt alle zulässigen Arten der Datenverarbeitung. „Sobald wir Hinweise für Vergehen haben, können wir tätig werden“, so Broich. Das kritisierten zuletzt vor allem die Krankenkassen. „Bei den sensiblen Themen Datenschutz und Datensicherheit müssen die Hersteller verpflichtet werden, qualifizierte Nachweise, zum Beispiel über externe Gutachten, zu liefern", so Ulrike Elsner, Vorstandsvorsitzende des Verbandes der Ersatzkassen (vdek). Sie hält Eigenauskünfte der Hersteller für nicht ausreichend. Nach Verordnungsentwurf ist als Sicherheitsnachweis eine CE-Zertifizierung ausreichend. Natürlich ist auch eine Verknüpfung zum deutschen Großprojekt „elektronische Patientenakte“ (ePA) vorgesehen. Ab 1. Juli 2021 ist eine Schnittstelle – relevant z.B. für Therapieplanung oder Therapieergebnisse – von DiGA zu ePA in Anträgen verbindlich. Zuvor müssen bereits alle über die DiGA gesammelten Daten in einem Vesta-konformen oder anderem international anerkannten Standard exportfähig sein.

Fehlender Wettbewerb und Innovation: Das passt nicht!    

Franz Knieps hat in Berlin berichtet, warum er das aktuelle Sozialgesetzbuch V für nicht zeitgemäß hält.

Wenn die Vorstandsvorsitzenden in Interviews und Statements erklären, dass sie ihr Unternehmen im Wettbewerb gut aufgestellt sehen, dann ist das zwar noch nicht unbedingt gelogen, aber dennoch nicht ganz wahr. Denn einen richtigen Wettbewerb in der Gesetzlichen Krankenversicherung gibt es nicht. Seit Jahren bügelt der Gesetzgeber mit seinen Reformen die Kassenlandschaft glatt. Von Wettbewerb in der GKV könne keine Rede sein, meinte auch Franz Knieps, Vorstand des BKK Dachverbands, unlängst in Berlin. „Da gibt es ein bisschen Spiel beim Zusatznutzen und in der Frage, ob eine Kasse Homöopathie bezahlt oder nicht. Eine richtige Differenzierung wollen Politiker aller Parteien nicht hinnehmen“, so der Kassenchef. Und auch Christian Klose, Leiter der Unterabteilung „gematik, Telematikinfrastruktur, E-Health“ im Bundesministerium für Gesundheit, gibt inzwischen ganz offen zu, dass die Selektivverträge mit digitalen Angeboten aus Kassensicht bislang meist nur Marketingmaßnahmen waren. Klose war selbst über Jahre im Marketing der AOK Nordost und ihren Vorgängerkrankenkassen tätig. Knieps sieht im künstlich beschränkten Wettbewerb einen Fehler. Mit seiner Sicht steht er bei weitem nicht alleine da. „Wir haben Leistungswettbewerb im Innovationsfonds und für gutes Personal. Wir haben ein bisschen Leistungswettbewerb bei Serviceleistungen, aber in vielen Bereichen haben wir gar keinen Wettbewerb. Uns geht erst das Personal aus - bevor uns das Geld ausgeht. Mangel ist aber auch der Motor für Innovation“, so beispielsweise Prof. Dr. Volker Amelung, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands Managed Care (BMC). Wettbewerb zwischen den Kassen könne ein Innovationsmotor sein, ist auch Knieps überzeugt. Das gehe aber nicht ohne größere Reformen des Sozialgesetzbuches V (SGB V). Es sei Wahnsinn, was an An- und Umbauten in den letzten 30 Jahren gemacht worden sei, so Knieps. Alles würde heute im SGB V in Details geklärt und Leistungen in größter Detailtiefe beschrieben werden. Es sei an der Zeit für eine grundlegende Debatte um eine Neukonzeptionierung des SGB V – eine Forderung, die Knieps immer wieder in den letzten Jahren vehement vorträgt. Ihm schwebt eine „klarere ordnungspolitische Zielsetzung“ und „ein Zurück bei Organisationstiefe und –breite“ sowie „weniger Detailregelungen im SGB V“ vor. Aber nicht nur für eine Wiederherstellung des Wettbewerbs hält er diesen Schritt für zwingend notwendig. „Das aktuelle Gesundheitswesen nach dem SGB V ist immer noch das aus einer beliebigen Arztserie. Der Patient kommt und geht nach 45 Minuten wieder gesund nach Hause. Der chronische Patient, der Mensch mit Leid, kommt gar nicht vor. Auch soziale Probleme werden zunehmend ins Gesundheitswesen übertragen. Das SGB V sieht das Zusammenwirken mit Organisationen außerhalb des Gesundheitswesens aber gar nicht vor“, so der Kassenchef weiter.

Organspende-Regelung: Kein Zwang zum Widerspruch    

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn unterlag zwar mit seiner Initiative für eine Widerspruchslösung bei Organspenden. Bis die Entscheidung pro Entscheidungslösung aber in rund zwei Jahren umgesetzt wird, könnte das Thema noch einmal neu auf die Tagesordnung kommen.

Mit der Entscheidung des Bundestages gegen die von Bundegesundheitsminister Jens Spahn favorisierte Widerspruchslösung bei der Organspende, soll ab Inkrafttreten des Gesetzes – ab 2022 - eine „Erweiterte Entscheidungslösung“ in Kraft treten. Das heißt: Liegt keine Entscheidung des Spenders vor, werden die Angehörigen nach dessen Tod befragt. Ohne Zustimmung wird kein Organ entnommen. Dass diese Lösung von einer großen Zahl von Abgeordneten sowie zahlreichen Ärzteorganisationen – allen voran der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie – als „vertane Chance“ gesehen wird, zeigten die harten Diskussionen um das Thema. Wohl auch vor dem Hintergrund, dass bei Umfragen in der Bevölkerung fast 70 Prozent sich für die Widerspruchslösung (Spahn/Lauterbach) aussprachen, kündigt jetzt die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Prof. Dr. Claudia Schmidtke (CDU) an, kurzfristig eine neue Initiative zu starten, um die Widerspruchslösung doch noch in irgendeiner Form umzusetzen.
Nach dem Parlamentsbeschluss soll jedoch ab 2022 die „Entscheidungslösung“ gelten. Das bedeutet: Niemand muss aktiv widersprechen, um nicht Organspender zu werden. Zu massiv erschienen vielen Abgeordneten die Eingriffe in die persönliche Freiheit. Dagegen waren 379 Abgeordnete, 292 unterstützten den Vorschlag, 3 enthielten sich. Angenommen wurde stattdessen eine Reform, die vor allem auf Aufklärung setzt. Künftig sollen demnach alle Bürger mindestens alle zehn Jahre direkt auf das Thema Organspende angesprochen werden. Damit entschied sich das Parlament aber auch für eine Abwandlung der aktuell geltenden „Zustimmungslösung“, bei der aktiv eine Entscheidung pro Organspende getroffen werden muss (Organspende-Ausweis). In der Diskussion war übrigens auch ein Vorstoß Spahns, die Organspendeausweise in der Gültigkeit zu begrenzen, so dass Personen, die widersprochen hatte, diese Entscheidung alle zwei Jahre hätten erneuen müssen. Ansonsten wären sie automatisch potentielle Organspender geworden. Stirbt jemand im Ausland, so gilt automatisch das Organspende-Recht des jeweiligen Landes. Andere europäische Länder haben überwiegend eine Widerspruchslösung. So beispielsweise Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Spanien, Portugal. Insgesamt 23 Länder. Eine Erweiterte Zustimmungslösung gibt es in Dänemark, Irland, Niederlande, Schweiz oder auch im Vereinigten Königreich (insgesamt in neuen Ländern).

Ziel der von Bundestag beschlossenen Gesetzesänderung ist gleichwohl, dass mehr Organe gespendet werden. Für einen Eintrag in ein Spenderregister (in dem Fall erübrigt sich ein Organspendeausweis) soll aktiv geworben werden. Vorgesehen sind:
• Online-Register: Beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) soll ein Online-Register eingerichtet werden, in dem Menschen ihre Entscheidung zur Organspende eintragen lassen. Die Entscheidung können sie jederzeit ändern oder widerrufen.
• Aufklärung und Information: Die Aufklärungsunterlagen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sollen erneuert werden. Diese Infomaterialien bekommt jeder, der einen Ausweis beantragt oder verlängert.
• Beratung durch Hausärzte: Hausärzte sollen ihre Patienten alle zwei Jahre über Organspenden beraten "und sie zur Eintragung in das Online-Register ermutigen.
• Ärzte-Ausbildung: Organspenden sollen in der Ausbildung eine größere Rolle spielen und Bestandteil der ärztlichen Prüfung werden.
• Führerschein: Auch die Fahrerlaubnis-Ordnung wird geändert. Künftig ist das Thema Organspende Teil der verpflichtenden Erste-Hilfe-Schulung.

Immer mehr Arztsitze in Investorenhand    

Arztpraxen werden vermehrt als lohnendes Ziel von Investoren aus der Finanzbranche gesehen. Ist der Trend noch umkehrbar? Und was bedeutet das für die Versorgung der Patienten und die Autonomie ärztlicher Entscheidungen?

Dass die Wirtschaft das Gesundheitswesen als lohnendes Investorenziel entdeckt hat, ist keineswegs neu. Das Ausmaß, in dem Arztpraxen und medizinische Zentren wie beispielsweise Dialysezentren bundesweit in die Regie von Investoren übergehen, ist für viele Akteure der Szene dennoch überraschend. Besonders begehrt sind offenbar nicht nur Zahnarztpraxen, sondern vor allem auch die Sitze von Augenärzten, Dermatologen, Orthopäden aber auch anderen Fachärzten. Je mehr Sonderleistungen der jeweilige Facharzt „verkaufen“ kann oder je höher der Einsatz teurer Geräte oder medizinischen Materials, desto größer das Interesse reiner Investoren, die ansonsten eher wenig mit der ärztlichen Versorgung zu tun haben. Aktuell arbeiten bereits 18.000 der 94.000 Fachärzte angestellt in Medizinischen Versorgungszentren. Kein Problem für ärztliche Kammern und KVen, sofern es sich um rein von Medizinern geführte Zentren handelt. Allerdings stehen bereits hinter rund 15 Prozent dieser Zentren Investorenfirmen, denen es hauptsächlich um Rendite geht, der Firmensitz liegt dabei nicht selten in Steueroasen. Eine aktuelle Untersuchung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung hat den Verdacht erhärtet, dass dort deutlich mehr „unnötige Behandlungen“ anfallen, als in herkömmlichen Artpraxen und MVZ. Kassenseitig rechnet man sogar von bis zu einem Drittel höherer Kosten. Besonders markant ist die Lage in Nieren- und Dialysezentren. Zwar ist es noch nicht so wie in Portugal, wo wenige große Firmen das Geschäft komplett beherrschen. Dennoch gibt es auch hierzulande, beispielsweise im Großraum Düsseldorf, kaum noch Dialysezentren, die von einem niedergelassenen Nephrologen gehalten werden. Kein Wunder, denn ein Nephrologe, der seine Dialysepraxis beispielsweise aus Altersgründen verkaufen will, bekommt aus der Industrie sehr viel mehr dafür als beim Verkauf an Kollegen. Nicht selten mehrere Millionen Euro. Politiker und Gesundheitsministerium haben das Problem zwar erkannt. Eine entsprechende Gesetzesänderung dürfte aber noch dauern. Minister Spahn hat zunächst einmal ein Gutachten in Auftrag gegeben, das rechtliche Rahmenbedingungen für Trägerstrukturen und Versorgungsqualität prüfen soll. Die Ärzte- und Apothekerbank, die sich traditionell als Vertreterin der freiberuflich, vorwiegend ambulant tätigen Mediziner sieht, beobachtet den Trend mit Sorge. Die Verkaufswelle werde noch zunehmen, die Versorgung sich mehr an Renditekriterien orientieren. Investoren nutzen beim Aufkauf von Arztsitzen zudem gerne einen Umweg über den Kauf von Kliniken, die dann als Träger der Facharztketten fungieren. Daher ist das Geschäft oft nicht direkt durchschaubar. Wie kürzlich im Hamburg, wo ein Anbieter von Chemotherapeutika nach gezieltem Aufkauf von Arztsitzen die Kanäle nutze, um extrem teure onkologische Präparate in größerem Umfang zu verkaufen. Dort ermittelt jetzt ein Staatsanwalt. Entscheidender Nachteil von Investoren getragenen medizinischen Einrichtungen ist die Tatsache, dass bei der Versorgung stets Gewinnziele gesetzt werden, die einzuhalten sind. Andernfalls müssen angestellte Mediziner nicht selten um Positionen oder an finanziellen Erfolg geknüpfte Honorare fürchten. Das ist zwar nicht statthaft, im Einzelfall aber kaum faktisch zu überprüfen. Am transparentesten geht das aktuell wohl bei den Zahnärzten. So hat die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung ermittelt, dass über Praxen, die sich in der Hand von Finanzinvestoren befinden, rund 30 Prozent höhere Kosten bei Kassen abgerechnet werden, von Privatleistungen gar nicht zu reden. Prof. Dr. Karl Lauterbach, SPD-Gesundheitsexperte, möchte gerne den Verkauf von Arztsitzen an Finanzinvestoren komplett verbieten. Solange kein einheitlicher politischer Vorstoß folgt, bleibt es jedoch bei Lippenbekenntnissen. Und jede Woche wird durch den Verkauf weiterer Arztsitze eine kaum noch regelbare normative Kraft des Faktischen etabliert.

Real World Data: Wo steht Deutschland?    

Die Nutzung von Real World Data in der Forschung wird kontrovers diskutiert. Warum es nicht immer randomisierte klinische Studien braucht und weshalb der Begriff „Register“ schon schwierig ist, lesen Sie hier.

Register stehen bei der aktuellen Gesundheitspolitik hoch im Kurs. Klinische Krebsregister sind zum Beispiel seit 2013 im Aufbau und inzwischen in allen Bundesländern etabliert. Im Herbst 2019 hat zudem der Deutsche Bundestag die Errichtung eines Implantate-Registers Deutschland beschlossen. „Das Wort Register ist eigentlich ungeeignet. Die Menschen denken, dass die Daten in den Keller gehen und da bleiben. Register sind sinnvolle, aktive Aufarbeitungs- und Management-Systeme, welche die Realität abbilden können“, erklärte Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann, stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung (DNVF) unlängst in Berlin. „Wo kriege ich eigentlich das Wissen für eine evidenzbasierte Medizin her?“, fragte der Professor des Instituts für Community Medicine der Universitätsmedizin Greifswald weiter. In der Onkologie seien über Jahrzehnte Patienten ausgeschlossen worden, die Ko-Morbiditäten gehabt hätten. „Es gibt aber keine Onkologie-Patienten ohne Ko-Morbiditäten. Das war ein Problem, wenn für Studien rekrutiert wurde“, so Hoffmann, der auch Leiter des Krebsregisters in Mecklenburg-Vorpommern ist. Register würden im Gegensatz zu randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) alle Patienten begleiten, ergänzte Prof. Dr. Monika Klinkhammer-Schalke, Vorsitzende des DNVF. „Egal von welchen Real World Daten wir sprechen, wir haben immer mit Menschen zu tun und das muss immer beachtet werden. Wir wissen, dass wir in randomisierten Studien nicht alle Menschen abbilden. Vor allem ältere Menschen oder multimorbide Patienten fehlen. Das müssen wir viel besser abbilden. Wir sollten Register für viele Fragestellungen nutzen“, so Klinkhammer-Schalke weiter. Laut Hoffmann sind Register auch bei der Mindestmengenforschung im Einsatz und über Mindestmengen wird 2020 gesundheitspolitisch sicher noch größer diskutiert werden. Register seien auch eine gute Datenquelle, weil für RCTs oftmals das Geld fehle: „Das Clinical-Trial-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist zehnfach überzeichnet“, so Hoffmann.

Ein Vorreiter im Umgang mit Real World Data sind die USA. Die Food and Drug Administration (FDA) setzt bereits länger auf eine dreigliedrige Strategie: Die Ermittlung und Bewertung von Datenstandards, Umsetzungsstrategien für die Verwendung von Real World Data und die Zusammenarbeit mit Stakeholdern zur Anpassung oder Weiterentwicklung von Standards und Umsetzungsstrategien. Die DNVF-Vorsitzende zeigt anhand von Beispielen, dass alle FDA-Aktivitäten schon jetzt in Deutschland möglich sind. Bereits beim Nationalen Krebsplan im Jahr 2008 habe das Bundesgesundheitsministerium einen einheitlichen onkologischen Basisdatensatz festgelegt. Und Umsetzungsstrategien für die Verwendung von Real World Data gebe es schon jetzt einige – beispielsweise Auswertungen im Rahmen von Projekten, Zentrumsauswertungen oder auch „Service-Auswertungen“ auf Anfrage von Ärzten. Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Tumorzentren (ADT) führe seit 2006 zum Beispiel alle zwei Jahre die Daten aller Krebsregister zusammen – auch 2020 wieder. Auch würden die Erkenntnisse aus Real World Data bereits jetzt helfen, Leitlinien auf Fehler zu überprüfen oder zu verbessern. „Wenn wir von Real World Data sprechen, dann müssen wir gucken, in welchen Bereichen ist Therapie noch notwendig und in welchen nicht“, so Klinkhammer-Schalke. Wochen- bis monatelange Chemotherapie ohne Effekt aber mit großen Nebenwirkungen seien so vermeidbar. Abschließend fasste Hoffmann zusammen, dass es Evidenz außerhalb der RCTs gibt. „Hier ist aber gute Methodik, Integration und Synthese der verfügbaren Evidenz aus heterogenen Quellen, kritische Bewertung und fundierte Interpretation gefragt. Die notwendige Stufe der Evidenz und damit die Typen, Anzahl, Größe der benötigten Studien ist u.a. abhängig vom Schadenspotential für die Patienten und dem Nutzen der Therapie“, so Hoffmann. Ein aktuelles Beispiel aus der Praxis zur Nutzung von Real-World-Data: Seit dem Jahr 2009 werden Daten von Patienten im deutschen Nationalen Register für Primäre Immundefekte (PID-NET Register) gesammelt. Forscher des Exzellenzclusters RESIST (Resolving Infection Susceptibility) haben die von den dokumentierten Zentren im PID-NET Register gesammelten Daten nun ausgewertet. Sie kommen zu dem Schluss, dass in Deutschland von 100.000 Einwohnern mindestens 2,7 eine angeborene Immunschwäche haben. Betroffen sind nach dieser Berechnung also rund 2.300 Menschen. Laut den Wissenschaftlern sollen die meisten Betroffenen zu wenige funktionierende Antikörper oder eine Immundysregulation haben. Die Ergebnisse sollen zu schnelleren Diagnosen und besseren Behandlungen führen, hofft Professor Dr. Bodo Grimbacher, RESIST-Forscher der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). „Die Analyse zeigt, mit welch unterschiedlichen Symptomen Patienten mit angeborenen Störungen des Immunsystems krank werden können“, ergänzt Professor Reinhold E. Schmidt, Direktor der MHH-Klinik für Immunologie und Rheumatologie.

Ärzte-Befragung zeigt: Reformen kommen in der Praxis nicht an    

Viele Ärzte reagieren laut den Ergebnissen des Marburger Bund Monitors 2019, der letzte Woche in Berlin vorgestellt wurde, auf die gleichbleibend schwierigen Arbeitsbedingungen mit einem Wechsel in die Teilzeit.

Das Institut für Qualitätsmessung und Evaluation (IQME) hat die Mitglieder der Ärztegewerkschaft Marburger Bund (MB) zu ihren Arbeitsbedingungen befragt. Die 6474 gültigen Antworten verteilten sich dabei auf 42 Prozent Ärzte in der Weiterbildung zum Facharzt, 23 Prozent Fachärzte und 24 Prozent Oberärzte. Über 90 Prozent der befragten Mitglieder sind in Krankenhäusern angestellt. Und diese arbeiten nach eigener Aussage deutlich mehr als sie wollen. Bei den Beschäftigten in Vollzeit liegen im Durchschnitt rund 14 Stunden zwischen tatsächlicher (56,5 Stunden) und gewünschter (42,3 Stunden) Arbeitszeit. Bei den Teilzeitbeschäftigten beträgt die Differenz acht Stunden (39,6 Stunden zu 31,7 Stunden). 26 Prozent der Befragten geben inzwischen an, einen Teilzeitvertrag zu haben. Die MB-Vorsitzende Dr. Susanne Johna nennt dies eine „private Arbeitsmarktreform“. „Wir sehen immer mehr Ärzte, die in Teilzeit gehen. Mehr Planbarkeit und Verlässlichkeit bei der Arbeitszeitgestaltung, wie sie der Marburger Bund in der aktuellen Tarifrunde mit den Ländern für die Ärzte in Unikliniken fordert, würde die Arbeitszufriedenheit deutlich erhöhen“, so Johna, die auch im Vorstand der Bundesärztekammer ist, weiter. Sie wirft den Krankenhäusern vor, zu wenig in die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben zu investieren. Nur 44 Prozent der Befragten geben an, dass ihre Arbeitszeit elektronisch erfasst wird. Bei weiteren 26 Prozent soll dies schriftlich erfolgen, bei den restlichen 30 Prozent gar nicht. Dies resultiere in durchschnittlich 6,7 Überstunden pro Woche und auf das Jahr hochgerechnet 65 Millionen Überstunden für die Ärzteschaft. Johna findet dies inakzeptabel. Die Befragungsergebnisse legen auch nahe, dass die Belastung der Ärzte gesundheitliche Folgen hat. 74 Prozent der Befragten geben eine Beeinträchtigung der Gesundheit – zum Beispiel Schlafstörungen und Müdigkeit - durch die Gestaltung der Arbeitszeiten an. 15 Prozent der Ärzte wollen sich sogar bereits in ärztliche/psychotherapeutische Behandlung begeben haben. Geholfen wäre den Ärzten schon mit einer Reduzierung der Belastung durch Datenerfassung, Dokumentation und Organisation. Denn von der allerseits angekündigten, angestrebten und durch Vertreter aus Politik, Ärzten und Kassen versprochenen Reduzierung der Bürokratie, kommt in der Realität wohl bisher nichts an. Gaben im Jahr 2013 erst acht Prozent der Krankenhausärzte an, mindestens vier Stunden am Tag mit Verwaltungstätigkeiten befasst zu sein, so sind es inzwischen 35 Prozent. Die Ärzte wollen bei ihrer Arbeit unterstützt werden – aber nicht durch die Pflege. Den Ärzten sei inzwischen klar, so Johna, dass die Pflegekräfte selbst vollkommen ausgelastet seien. Vielmehr wünschen sich die angestellten Ärzte, dass ihnen aus der Verwaltung und dem Sekretariat mehr unter die Arme gegriffen werde.

Angehende Mediziner haben Wissensdefizite bei Ernährung    

Die Ernährungsmedizin wird in Deutschland stark vernachlässigt. Es gibt genug Anzeichen, dass dies nicht so bleiben sollte.

Der 121. Deutsche Ärztetag beschloss 2018 in Erfurt die Aufnahme der Ernährungsmedizin in die Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer und entwickelte anschließend dafür ein duales Weiterbildungskonzept für Ernährungsmedizin mit einem Umfang von 220 Stunden. Es beruht auf dem Curriculum Ernährungsmedizin von 100 Stunden und 120 Stunden Fallseminaren und wird derzeit von den Landesärztekammern auf Länderebene umgesetzt. Und das ist auch zwingend notwendig, denn die Ernährungsmedizin wird in der deutschen Versorgungsrealität kaum angewendet, und wenn, dann meist nicht zeitgemäß. Ernährungsmediziner gehen davon aus, dass 70 bis 80 Prozent aller Krankheiten eine Ernährungsursache, einen Ernährungshintergrund oder eine ernährungstherapeutische Konsequenz haben. Werden Fehl-, Über- oder Mangelernährung nicht passend adressiert, dann können unter anderem zahlreiche Erkrankungen wie Adipositas, Diabetes, Fettstoffwechselstörungen, Krebserkrankungen, hormonelle Störungen und koronare Herzerkrankungen die Folge sein. Ein gemeinsames Forscherteam der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg (MLU), der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und der University of Washington wertete zuletzt Daten der Global Burden of Disease Study von 1990 bis 2016 aus. Von 4,3 Millionen kardiovaskulären Todesfällen im Jahr 2016 im europäischen WHO-Raum (51 Staaten) führten die Forscher mit 2,1 Millionen Todesfällen fast die Hälfte auf eine unzureichende Ernährung zurück. Auf die 28 Mitgliedstaaten der EU sollen davon rund 900.000 entfallen, auf Russland beispielsweise 600.000. Für Deutschland wiesen die Studienautoren 160.000 mit einer unausgewogenen Ernährung assoziierte Todesfälle (46 Prozent aller kardiovaskulären Todesfälle), in Großbritannien 75.000 (41 Prozent) und in Frankreich 67.000 (40 Prozent) aus. Seltener waren ernährungsbedingte kardiovaskuläre Todesfälle beispielsweise in Israel und Spanien: Hier war es nur jeder Dritte. „Ein vermehrter Verzehr von ballaststoffarmen Weißmehlprodukten hat in den letzten Jahren zu einer Zunahme von Herzkreislauf-Erkrankungen geführt. In Albanien, Aserbaidschan und Usbekistan haben sich entsprechende Fallzahlen im betrachteten Zeitraum sogar mehr als verdoppelt", sagt der Studienleiter Dr. Toni Meier von der MLU.

Sieben Fachgesellschaften und Fachverbände entwickelten zuletzt den „Leitfaden für die praktische Ernährungstherapie in Klinik und Praxis“ (LEKuP). „Im Leitfaden sind die vollwertige Ernährung nach den Empfehlungen der DGE sowie – alternativ – die mediterrane oder vegetarische Kost als Grundkostformen definiert“, so Professor Dr. Hans Hauner, Institut für Ernährungsmedizin der TU München. Doch selbst wenn die Empfehlungen zeitnah in der Praxis umgesetzt werden, das Grundproblem beginnt viel früher. Bisher gibt es an deutschen Universitäten keine Lehrstühle für die Querschnittsfächer Ernährungsmedizin und Ernährungstherapie, ihre Inhalte sind im Medizinstudium folglich unterrepräsentiert. „Im Gegensatz zu anderen EU-Ländern wird Ernährungsmedizin an deutschen Universitäten nicht gelehrt. Der Wissensstand der Studenten auf diesem Gebiet ist dementsprechend erschütternd niedrig“, meint Professor Dr. Gerd Bönner, Präsident der Deutschen Akademie für Ernährungsmedizin e.V. (DAEM). Dieser Faktor ist mitverantwortlich dafür, dass mehr als 1,5 Millionen Menschen in Deutschland von einer Mangelernährung betroffen sind. Laut dem 14. Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. (DGE), der Mitte Oktober 2019 veröffentlicht wurde, soll fast ein Drittel der Patienten in deutschen Krankenhäusern und ein Viertel der Bewohner in Pflegeheimen Zeichen einer Mangelernährung zeigen. Im Bericht wird von einem „deutlichen Defizit an ernährungsmedizinischer Fachkompetenz“ gesprochen. Nur zehn Prozent der Klinikstationen und 30 Prozent der Pflegewohnheimbereiche, die mit Daten an dem Bericht teilnahmen, verfügten über eine Diätassistenz, die speziell für die ernährungstherapeutische Betreuung ausgebildet ist. Ein Viertel der Stationen soll sogar klinische Ernährung ohne Richtlinien oder Standards durchgeführt haben. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) empfiehlt deshalb die Durchführung von einem Ernährungsscreening, mit dem bestehende Mangelernährungszustände erkannt werden können.

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