Berlin-Chemie Newsletter vom 16. April 2019

Berlin-Chemie Newsletter vom 16. April 2019

  • Selbstverwaltung vs. Spahn
    G-BA-Chef Josef Hecken teilt aus
  • Spahn: „Wir müssen Lust auf den Wandel haben“
    Die Politik hat die Digitalisierungsstrategie gewechselt
  • Patientenakten: Noch werkelt jeder für sich
    Kleckerlösung oder Gesamtkonzept – was erreicht die Regierung?
  • Ärzte sind ein bisschen zufrieden
    Schuhe lassen sich zurückschicken, Termine nicht
  • Am Ende muss der Mensch entscheiden
    Künstliche Intelligenz ist in ihren Möglichkeiten (noch) limitiert
  • Europatag der Zahnärztekammer
    Berufsrecht als Markthindernis?
  • Das sind die Sieger
    Vier Gesundheitsnetzwerkerpreise verliehen
  • Selbstbestimmung dank Digitalisierung
    Roboter Thea klärt Patienten auf
 

Selbstverwaltung vs. Spahn

Wie geht es für die Selbstverwaltung weiter? Um diese Frage ging es inoffiziell beim Parlamentarischen Abend des Gemeinsamen Bundesausschusses.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat nun schon mehrfach ausgeholt und gedroht, die Kompetenzen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zu beschneiden. Entsprechend gut besucht war der Parlamentarische Abend des G-BA in der neuen Niederlassung, denn Spahn persönlich hatte sich angekündigt. Es kamen nicht nur hochrangige Vertreter aus der Selbstverwaltung, sondern auch viele Mitglieder des Gesundheitsausschusses des Bundestags, die der drohenden Auseinandersetzung beiwohnen wollten.

G-BA-Chef Josef Hecken wandte sich zunächst versöhnlich an Spahn: „Ich werte Ihr Kommen als positives Signal.“ Im Anschluss folgten sehr klare und teilweise auch zynische Worte: „Sie sagen ja immer, dass Sie ein Fan der Selbstverwaltung sind – ich bin ein Fan der Rechtsaufsicht.“ Das Argument des Ministers, dass eine Selbstverwaltung auch funktionieren müsse, damit sie wertgeschätzt werden könne, teilt Hecken. Gleichzeitig fragte er, woran dieses Funktionieren festgemacht werden soll. Geht es wirklich um Schnelligkeit? Die hatte Spahn zuletzt bemängelt. Hecken konterte mit den Ergebnissen aus einem Gutachten: „Aus der Gesamtschau ergibt sich, dass der G-BA seine vom Gesetzgeber übertragenen Aufgaben nicht nur auf einem qualitativ hohen Niveau erfüllt, das international große Anerkennung findet, sondern in der weit überwiegenden Zahl der Verfahren auch fristgerecht abschließt.“
Dass der G-BA einige Kröten im Keller habe, wolle er nicht leugnen. Aber der überwiegende Teil laufe sehr gut. Beispiel AMNOG: Der G-BA müsse sich immer wieder Kritik gefallen lassen und Weltuntergangsszenarien anhören, wenn Zusatznutzen nicht anerkannt würden. „Doch ganz ehrlich – durch diese Weltuntergangsszenarien sparen wir 10 Milliarden Euro jedes Jahr. Das entspricht 0,7 Beitragspunken“, so Hecken. Liposuktion, Biomarker für Brustkrebs, gematik – Hecken ließ nichts aus in seiner Abrechnung mit Spahn. Eine partielle Fachaufsicht über den G-BA lehnt Hecken strikt ab. „Es wäre der erste Stein der Selbstverwaltung, der da herausgebrochen wird. Der Anfang vom Ende.“

Spahn gab sich überrascht über diesen – wie er sagte – „defensiven Angriff“, schließlich arbeite man doch gut zusammen. Er sprach von einem grundsätzlichen Vertrauen in den G-BA, doch da, wo es eben nicht gut genug liefe, wie etwa bei der Digitalisierung, müsse die Politik eingreifen. „Am Ende wird auch meine Politik daran gemessen, wieviel wir in Sachen Digitalisierung geschafft haben. Dann möchte ich die Torte, die ich dann ins Gesicht bekomme, wenigstens zu Recht abbekommen“, so Spahn, der ein kleines Versprechen gab: „Wir haben hohes Zutrauen in den G-BA, das sich auch in der weiteren Gesetzgebung widerspiegeln wird.“

Spahn: „Wir müssen Lust auf den Wandel haben“

Trotzdem kann das Fax so schnell nicht abgeschafft werden.

Wenn über die Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland gesprochen wird, dann wird oft gemosert, gejammert und der Vergleich mit anderen Ländern herbeigezogen. „Wir hatten 2004 ein Gesetz gemacht, bei dem man dachte, dass in drei Monaten die elektronische Gesundheitskarte da ist. So hat sich das jedenfalls gelesen“, eröffnete Bundesgesundheitsminister Jens Spahn eine Messe zu Digital Health in Berlin. Eingetreten ist das nicht. Doch Spahn will kein Gejammer mehr hören. Jetzt sei man in einer Zeit, wo die verlorenen Jahre aufgeholt werden könnten. „Wir müssen Lust haben auf diesen digitalen Wandel“, so der Minister weiter. Nur dann gebe es die Chance, ihn auch zu gestalten. Und damit ließe sich auch die Wertschöpfung in Deutschland halten, denn anderenfalls würde der Wandel einfach von den Konzernen aus dem Ausland übernommen werden. „Ich glaube, in zwei Jahren sind wir so weit hinten, dass es dann auch egal ist“, mahnte Spahn. „Wir machen Digitalisierung nicht zum Selbstzweck, sondern weil es in der Versorgung etwas besser machen soll.“ Und wenn er sehe, wie stark amerikanische und chinesische Konzerne in Gesundheits-IT investieren würden und dass dabei ihr Umgang mit Patientendaten aus europäischer Sicht nicht nachahmenswert sei, dann müsse Deutschland seine eigenen Lösungen mit seinen eigenen Vorstellungen von Datenschutz und Versorgungsstrukturen entwickeln.

Die Politik habe in den letzten zwölf Monaten ihre Gesetzgebungs-Strategie dem digitalen Wandel angepasst. „Immer dann, wenn wir in der Politik das berechtigte Gefühl haben, dass etwas entscheidungsreif ist, hängen wir es an andere Gesetze heran“, so Spahn. Die digitale Versorgung im Alltag sei eine Daueraufgabe, die auch in der Gesetzgebung ihren Niederschlag finden müsse. Im zweiten Digitalisierungs-gesetz („E-Health-Gesetz II“), das wohl im Sommer ein Thema wird und nicht als allumfassendes Gesetz gedacht ist, soll die Datennutzung genauer in den Blick genommen werden. Mit den pseudonymisierten Daten des unlängst verabschiedeten Implantateregister-Errichtungsgesetzes (EIRD) könnten viele Erkenntnisse gewonnen werden. „Das Gesetz hat 34 Seiten und die Begründung durch die Datenschutzerklärungen 100 Seiten. Aber auch mit dem heutigen Datenschutzrecht geht viel. Wir sind mit dem Gesetz gut durch das Kabinett gekommen.“

Die Repräsentanten des Bundesministeriums für Gesundheit geben sich redlich Mühe, als Anhänger der Digitaleuphorie wahrgenommen zu werden. Imagefördernd ist da auch die Gründung des „Health Innovation Hub“, eines elfköpfigen „unabhängigen Expertengremiums“, das dem BMG beratend zur Seite stehen soll. Doch wenn ganz genau hingehört wird, dann kann doch der ein oder andere Dämpfer wahrgenommen werden. Da wäre zum Beispiel Dr. Gottfried Ludewig, Abteilungsleiter für Digitalisierung und Innovation im Bundesgesundheits-ministerium, der unlängst einräumen musste, dass „die bestehende Technologie noch nicht so weit ist, dass wir das Faxgerät verbieten können“. Ein Problem liege in der Vergütung: Pro Fax bekomme der Arzt 55 Cent, für ausgehende Mails nur 28 Cent, für eingehende Mails 27 Cent. Ein Verbot sei folglich nicht der erste Schritt, sondern die Frage: „Wie gewichten wir die Finanzierung?“ Und bis das entschieden ist, vergehen sicherlich weitere Monate.

Patientenakten: Noch werkelt jeder für sich

Die Einhaltung der Frist bei den elektronischen Patientenakten wird knackig. Verlängert wird sie jedoch auf keinen Fall, stellte das Bundesministerium für Gesundheit unlängst klar.

Die elektronische Patientenakte (ePA) bleibt, trotz bekannter Fristen – bis 2021 soll die ePA allen GKV-Versicherten zur Verfügung gestellt werden – eine gewaltige Baustelle. Auf dem 14. Kongress für Gesundheitsnetzwerker betonte Dr. Gottfried Ludewig, Leiter der Abteilung Digitalisierung im Bundesministerium für Gesundheit (BMG), dass nicht alle glücklich damit sein werden, was der Stand am 1. Januar 2021 sein wird. Eine erneute lange Diskussion über die elektronischen Spezifikationen der ePA mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) und Co. werde es nicht geben. Aber die ePA nach ihrem jetzigen Rahmen sei ein Startpunkt mit einer Basisversion, welche die Themen Sicherheit und Interoperabilität sicherstelle und sich in den Jahren ab 2021 weiterentwickeln werde. Man sei zuletzt einen großen Schritt weitergekommen. Die Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH (gematik) habe den Auftrag erhalten, auch mobile Zugriffe über das Smartphone zuzulassen. Als das aktuelle Ministerium in die Verantwortung gekommen sei, habe es noch Kartenlesegerät, Steckerverbindung, sechsstellige PIN und Karte als Zugriffsvoraussetzung gegeben. Nachjustieren wird der Gesetzgeber auch mit dem „E-Health-Gesetz II“, dessen Eckpunkte er für das zweite Quartal ankündigte. Darin, so Ludewig in Berlin, soll die Schnittstellenoffenheit und Interoperabilität als Abrechnungsvoraussetzung vorgeschrieben werden. Beides sind Grundvoraussetzungen für einen echten ePA-Erfolg im Gesundheitssystem. Zudem wolle sich das BMG mit dem Marktzugang digitaler Anwendungen beschäftigen – solche sind auch Module für die ePA.

Ludewig nutzte die Gelegenheit die vier Prinzipien der Digitalisierungsstrategie dazulegen:
- Klare Verantwortlichkeit, als wesentliche Voraussetzung für zügige Entscheidungen,
- Schrittweises Vorgehen statt perfekter Lösungen,
- Beachtung internationaler Standards und
- Im Vordergrund stehe der Mehrwert für Patienten und Versicherte, wozu das Versicherten-Stammdaten-Management sicher nicht gehöre.

Damit war der Einstieg in ein hochkarätig besetztes Podium gegeben. Prof. Dr. Sylia Thun, Direktorin der Core Unit eHealth & Interoperability des Berlin Institut of Health, betonte die Notwendig der internationalen Standards und erklärte den Vorteil, der in standardisierten Daten für Patientinnen und Patienten, Heilberufe aber auch die Forschung liege.
Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV, erläuterte, wie die KBV die ihr gestellte Aufgabe der Herstellung der semantischen Interoperabilität anzunehmen gedenke. Selbstverständlich wolle man Standards und werde sich aktiv mit allen anderen Beteiligten austauschen.
Die Vertreterinnen und Vertreter der Kassenakten stimmten in den Chor der Notwendigkeit des Austausches von standardisierten Daten mit ein. Die Techniker Krankenkasse, vertreten durch Dr. Susanne Ozegowski, war als erste Kasse mit einer Akte auf dem Markt und werde ihre Akte an die offizielle ePA nach § 291 SGB V anschlussfähig machen. Das plant auch Christian Rebernik, Gründer und Geschäftsführer von Vivy, einer Akte, die zahlreiche Kassen unter anderen die DAK anbieten. Daniela Teichert, Beauftragte des Vorstandes der AOK Nordost, stelle die AOK-Akte vor, die mehr die Verknüpfung der Versorger im Blick hat, die Anforderungen der ePA nach SGB V aber auch annehmen wird.Die hochkarätige Runde war sich einig, dass ein guter, notwendiger Weg eingeschlagen ist. Dass noch viel zu tun ist und allenfalls erste Schritte gegangen worden sind, wurde in der Debatte deutlich. Einiges wird das von Dr. Ludewig angekündigte eHealth Gesetz II sicherlich anstoßen.

Ärzte sind ein bisschen zufrieden

Politik fordert MVZ-Register und Vergütung von Verwaltungsarbeit in Praxen.

Die Ärzte-Lobby vermittelt seit jeher ihren Unmut über Änderungen der Rahmenbedingungen ihrer Arbeit laut und deutlich. Vor allem die Riege der letzten Jahre ist nicht dafür bekannt, verbale Pirouetten zu drehen. Dr. Andreas Gassen, Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery, Dr. Dirk Heinrich – sie alle sind für klare Meinungen bekannt. Umso erstaunlicher war die größtenteils behagliche Atmosphäre auf dem 5. Fachärztetag des Spitzenverbands der Fachärzte in Deutschland. Dessen Vorstandsvorsitzender Dr. Dirk Heinrich erklärte in Anwesenheit des Bundesgesundheitsministers zufrieden, dass mit dem Mitte März verabschiedeten Terminservice- und Versorgungsgesetz der Zusammenhang von Leistung und Vergütung seitens der Gesundheitspolitik wieder anerkannt werde. Das sei eine Paradigmenwechsel. Zudem zeige das Gesetz deutlich, dass die Budgetierung keine Lösung, sondern ein Problem darstelle. Die Ärzte sollten dies und auch die sachlich, konstruktive Debatte mit der Politik anerkennen, meinte Heinrich. Das ist ganz schön viel Lob für ein Gesetz, das monatelang im gesundheitspolitischen Mittelpunkt stand und besonders seitens der Ärzte scharf attackiert wurde. Dass die niedergelassene Ärzteschaft auch nach der Verabschiedung des Gesetzes die Ausweitung des Mindestsprechstundenangebots auf 25 Stunden, weiterhin ablehnt, ist nicht verwunderlich. Minister Jens Spahn betonte erneut, dass er die Terminvergabe im Gegensatz zur KBV nicht nur für ein „gefühltes Problem“ halte. „Viele Ärzte machen keinen Unterschied zwischen privat und gesetzlich Versicherten. Aber Ausnahmen gibt es zu häufig und hier setzt das TSVG an“, so der Minister. Mit der Ausweitung der Sprechstunden würde der Gesetzgeber auch die Ärzte schützen, die noch am Abend um sieben Uhr in der Praxis Patienten versorgen würden, versuchte der Minister die Ärzte zu überzeugen. Das TSVG ziele nur auf die Ärzte ab, die schon jetzt nicht ihrem Versorgungsauftrag von 20 Sprechstunden pro Woche nachkommen würden. Der SpiFa argumentierte dagegen, dass die offene Sprechstunde ein Angebot sein sollte, über dessen Umsetzung jeder Arzt selbstständig entscheiden müsse. Aber welchen Sinn hätte dann dieser Gesetzesteil gemacht? Überzeugender wirkte dann schon die Forderung nach einer Patientensanktionierung bei einem unangekündigten Ausfall des Termins. „Die Patienten müssen in die Budgetverantwortung einbezogen werden“, so Heinrich. Bei Online-Terminvereinbarungen herrsche gar eine „Zalando-Mentalität“, so der SpiFa-Chef. „Schuhe kann ich problemlos zurückschicken. Aber einen freien Arzttermin kann ich nicht eben neu besetzen, in dem ich einen Passanten von der Straße fische“, so Heinrich.

Neben dem Minister waren noch weitere Politiker anwesend. Für zwei Forderungen spendeten die Ärzte Beifall. Erstens: Dr. Achim Kessler, Obmann der Fraktion Die Linke im Gesundheitsausschuss, forderte die Einrichtung eines Registers über Medizinische Versorgungszentren (MVZ). Dafür werde seine Fraktion einen Antrag stellen, denn die Regierung habe zuvor nicht beantworten können, wie viele MVZ sich bereits in der Hand privater Investoren befinden. Auch Heinrich begrüßte die Transparenzinitiative. „Patienten sollten vor ihrer Entscheidung für eine Therapie wissen, in wessen wirtschaftlichem Besitz ein MVZ ist“, so der SpiFa-Chef weiter. Zweitens: Mit Bekundungen zum Abbau der Bürokratie können sich Politiker bei Ärzten in der Regel den schnellen Applaus abholen. Dass die Politik für einen nicht unwesentlichen Teil der Bürokratie durch immer neue Gesetzgebung und ein prall gefülltes Sozialgesetzbuch verantwortlich ist – geschenkt. Christine Aschenberg-Dugnus, gesundheitspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, wärmte eine mindestens sechs Jahre alte Debatte wieder auf: Kassen sollen für ihre Bürokratie-Wünsche an Ärzte bezahlen. „Der meiste Bürokratieaufwand kommt von den Krankenkassen. Wenn sie dafür bezahlen müssten, dann würden sie sich überlegen, was sie von den Ärzten verlangen und was nicht.“ Realistischer – und wohl deutlich wichtiger – ist eine zweite Forderung, welche die Abgeordnete in einem Nebensatz unterbrachte: Gesetze aus Zeiten der „Ärzte-Schwemme“ (ungefähr 1980 bis 2000) sollten überprüft und gegebenenfalls entrümpelt werden. Dann stellt sich jedoch die Frage, warum sich dies nur auf jenen Zeitraum beschränken sollte.

Am Ende muss der Mensch entscheiden

Erfahrungswerte bleiben in der Medizin wichtig und müssen geschützt werden.

„Wenn über künstliche Intelligenz geredet wird, dann muss auch über künstliche Dummheit geredet werden“, äußerte Prof. Dr. Gerd Antes, Co-Director der Cochrane-Stiftung und renommierter Mathematiker, kürzlich in Berlin. Was damit gemeint sein könnte, berichtete Dr. Volker Busch, Wissenschaftlicher Leiter der AG Psychischer Stress und Schmerz des Universitätsklinikums Regensburg, bei der Eröffnung des Kongresses für Gesundheitsnetzwerker auf beeindruckende Weise. Bei Versuchen des Suchmaschinen-Riesen Google habe es zum Beispiel einen Algorithmus gegeben, der zu dem Ergebnis kam, dass Speiseeis Sonnenbrand verursacht. Dass Menschen bei gutem Wetter mehr Eis essen und sich mehr in der Sonne aufhalten, mag sicherlich korrekt sein. Die Schlussfolgerung des Algorithmus ist es trotzdem nicht, denn bisher können solche Programme nicht zwischen Korrelation und Kausalität unterscheiden. „Die Maschine braucht den Menschen, um den Kontext und Sinnhaftigkeit herzustellen. Keine Künstliche Intelligenz kann das derzeit“, so Busch weiter. Künstliche Intelligenz biete künftig bei der Mustererkennung dennoch Vorteile und Chancen. Der menschliche Verstand könne Muster nur dann gut erkennen, wenn sie stark von seinen Erwartungen und Erfahrungen abweichen würden. Algorithmen könnten hingegen auch feinere Unterschiede registrieren. Künstliche Intelligenz wird künftig eine Ergänzung und Assistenz für den Menschen sein. Das hat auch die breite Palette der medizinischen Fachrichtungen weitgehend akzeptiert. Busch warnt jedoch davor, dass eine Technik-Abhängigkeit die Faktoren Intuition und Erfahrungswerte in der Entscheidungsfindung gefährden könnte. Laut Studien würden Pilzvergiftungen in den Wäldern zunehmen, weil die Menschen nicht mehr wüssten, wo die essbaren Pilze wachsen. Auch hätten Menschen früher Veränderungen des Wetters viel stärker wahrgenommen. Da jeder heute den Wetterbericht am PC oder per App abrufe, hätten allenfalls noch Menschen mit Migräne eine Wetterfühligkeit. Ein gesundes Maß an analoger Intuition sei wichtig. „Es gibt ganz viele Signale, die Maschinen noch nicht erfassen können. Auf einer Frühchenstation sind das zum Beispiel der Geruch, die Bewegung des Kindes oder der Hautkolorit“, so Busch. Eine erfahrene Schwester erkenne dies. Man dürfe die einfachen Fälle nicht an die KI abgeben, um sich nur auf die schwierigen Fälle zu konzentrieren. „Woher soll ich denn die Erfahrung für schwere Fälle haben, wenn ich die Erfahrung nicht an einfachen Fällen gelernt habe? Erst viele einfache Fälle machen kompetent“, ist Busch überzeugt.

Europatag der Zahnärztekammer

Um die Zukunft der regulierten Berufe im Binnenmarkt ging es beim Europatag der Bundeszahnärztekammer. Was ist zu erwarten?

Die Wahl für das neue Europäische Parlament steht in wenigen Wochen bevor. Dabei betreffen zahlreiche gesundheitspolitische Initiativen der EU und insbesondere die Vorgaben des Gemeinsamen Binnenmarktes, wie die neue EU-Richtlinie für einen Verhältnismäßigkeitstest, die deutschen Heilberufe immer stärker und unmittelbarer. Prof. Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer (BZÄK) und Präsident der Zahnärztekammer Mecklenburg-Vorpommern, erklärte zum Auftakt des Europatages der Zahnärzteschaft in Berlin, dass die europäische Gesetzgebung eine immer größere Rolle spielt. Das lang bewährte Prinzip der Verkammerung von Ärzten und Zahnärzten sowie die besondere Rolle der Freiberuflichkeit stützen seit Generationen auch die Qualität unseres Gesundheitswesens sowie die Sicherstellung der Versorgung; Gebührenordnungen aber auch das Betreiben von Praxen sind auf dieser Basis geregelt und geschützt. In vielen Ländern der EU sieht das anders aus. Nun wird in der EU allerdings über eine neue Verhältnismäßigkeitsrichtlinie diskutiert, die auch das nationale Berufsrecht der Heilberufe grundlegend ändern könnte.

Das wohl größte Problem ist die zunehmende Kommerzialisierung. Dr. Peter Engel, Präsident der BZÄK, erklärt hierzu: „Zunächst einmal begrüße ich die Binnenmarktstrategie der EU.“ Bei mehr als 5.500 regulierten Berufen in Europa erwartet sich die Europäische Kommission vom Abbau „überflüssigen“ Berufsrechts große Wachstumsimpulse. Ökonomische Studien, die von der Kommission in Auftrag gegeben wurden, prognostizieren, dass durch den Abbau von „unnötigem und unverhältnismäßigem“ Berufsrecht rund 700.000 zusätzliche Arbeitsplätze in der EU geschaffen werden könnten. Im Bereich der Freien Berufe findet eine zunehmende Kommerzialisierung statt, die durch das Auftreten von großen Finanzinvestoren beschleunigt wird. So sind in den vergangenen Jahren große Dentalketten entstanden, die in Ländern wie Frankreich, Spanien oder Großbritannien bereits zu bedenklichen Fehlentwicklungen geführt haben.

Die BZÄK hat zur Wahl des neuen europäischen Parlaments Kernforderungen in einem Positionspapier zusammengefasst. So fordert die Kammer im Patienteninteresse die Sicherstellung der unbeeinflussten freien Berufsausübung, die Verabschiedung einer Europäischen Charta der Freien Berufe, die Prüfung von EU-Vorgaben auf deren bürokratische Auswirkungen, die Gewährleistung einer hohen Qualität der zahnmedizinischen Ausbildung, die Digitalisierung im Gesundheitswesen ausschließlich zum Nutzen der Patienten zu gestalten, Amalgam als notwendiges Füllungsmaterial zu erhalten, die Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen konsequent fortzusetzen und weitere Initiativen zur Verbesserung der Mundgesundheit und damit Lebensqualität der Menschen anzustoßen.

Das sind die Sieger

Um die Gesundheitsversorgung in Deutschland zu verbessern, braucht es offenbar nur ein paar gute Ideen. Die wurden beim Gesundheitsnetzwerkerkongress ausgezeichnet.

Die Wahl war schwierig, dennoch konnte sich die Jury am Ende einstimmig einigen, wer 2019 einen der begehrten Gesundheitsnetzwerkerpreise bekommen soll. So ging der Hauptpreis an das Gemeinschaftsprojekt der Hamburger IVP GmbH und der Kassenvereinigung Nordrhein mit ihrer Neurologisch-psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung (NPPV). Für eine möglichst engmaschige Begleitung der Patienten, die über die Regelversorgung hinausgeht, kooperieren berufsgruppenübergreifend Ärzte, Psychotherapeuten, Case Manager und Kliniken. Damit das funktioniert, ist eine gute digitale Infrastruktur vonnöten. Alle Behandelnden haben über die webbasierte Software IVPnet Zugriff auf eine elektronische Akte; Assessment und Behandlungspfade werden hierüber digital gemanagt. Patienten profitieren nicht nur von der sehr engmaschigen Betreuung, sondern können zudem E-Mental-Health-Angebote nutzen.

Neben dem Hauptpreis wurden drei Sonderpreise vergeben. Und zwar an die Patchie Mukoviszidose App, einen Online-Pflegekurs für pflegende Angehörige sowie die Softwarelösung DIGITAL IV der Gesundes Kinzigtal GmbH. Die Patchie Mukoviszidose App der Birds and Trees UG in Hamburg hilft erkrankten Kindern dabei, ihre Therapiemaßnahmen spielend im Blick zu behalten: Hierbei hilft das erkrankte außerirdische Patchie, das wie ein Tamagotchi zur Identifikationsfigur wird. Die Performance im Spiel, dem der Therapieplan des Kindes zugrunde liegt, wirkt sich auf den Gesundheitszustand von Patchie aus. Die Töchter & Söhne Gesellschaft für digitale Helfer mbH hat den Online-Pflegekurs für pflegende Angehörige in Zusammenarbeit mit der Forschungsgruppe Geriatrie der Charité und der Hochschule Bremen entwickelt. Interaktive Online-Pflegekurse bieten ein niedrigschwelliges Informations- und Begleitangebot. Die Softwarelösung DIGITAL IV der Gesundes Kinzigtal GmbH ermöglicht, die Patienten unabhängig vom jeweiligen Praxisverwaltungssystem digital in die Integrierte Versorgung des Gesundheitsnetzes einzuschreiben und eine zentrale Patientenakte zu nutzen. Das entspricht nicht weniger als der Lösung eines langwierigen, zentralen Themas der Integrierten Versorgung.

Selbstbestimmung dank Digitalisierung

Wenn es um die Digitalisierung im Gesundheitswesen geht, ist damit seltener die Pflege gemeint. Dabei gibt es auch hier vielversprechende Ansätze, die beim Kongress der Gesundheitsnetzwerker vorgestellt wurden.

Jasper Böckel und Felix Kuna meinten es ernst und schmissen ihre gut bezahlten Jobs hin, um mehrere Monate als Praktikanten in der Pflege zu arbeiten. Eigentlich wollten sie „bloß“ etwas Sinnstiftendes tun, doch dann kam den beiden eine Geschäftsidee und sie gründeten das Unternehmen Myosotis GmbH. Beim Gesundheitsnetzwerkerkongress in Berlin erzählte Böckel, was die Idee hinter der App „Myo“ ist: Die Kommunikationsplattform soll die Leben der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen wieder stärker verbinden und gleichzeitig die Kommunikation zwischen Angehörigen und Pflegekräften erleichtern. Pflegekräfte können Fotos, Sprachnachrichten und Videos in einer Art Familienchat posten. „Es geht hier um ein Grundbedürfnis nach Kommunikation, nach Teilhabe“, sagt Böckel.

Innovative, digitale Ideen wie diese könnten die Pflege in Zukunft weit nach vorn bringen. Cornelia Eicher, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschergruppe Geriatrie an der Charité, entwickelt gerade ein robotergestütztes Assistenzsystem für Menschen mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS). Während die Muskelkraft der Patienten schwindet, können sie mithilfe des Roboterarms ein Mindestmaß an Selbstbestimmung leben. Noch weiter geht die Forschergruppe rund um Dr. Patrick Jahn von der Universität Halle an der Saale. Er brachte den Pflegeroboter Thea mit zum Kongress, der Patienten unter anderem über Untersuchungen aufklären kann. Was Thea künftig in der Pflege leisten kann, ist noch offen. „Wir müssen erst einmal Akzeptanz für Robotik in diesem Bereich schaffen“, so Jahn. Viele Pflegekräfte fürchten fast reflexartig, dass sie ersetzt werden.

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