Berlin-Chemie Newsletter vom 02. April 2019

Berlin-Chemie Newsletter vom 02. April 2019

  • Kassenreform: Spahn und sein Zentralismus
    Wie ernstgemeint ist Spahns Angriff auf die regionalen Kassen?
  • Neuer Morbi-RSA als „Meilenstein der Sozialgeschichte“?
    Diese Änderungen sind geplant
  • Immer mehr Lieferengpässe
    Sind die Rabattverträge schuld?
  • Weitere „Bonbons“ für die Apotheker
    Minister legt neue Eckpunkte vor – Ein Versandhandelsverbot ist aber weiterhin kein Thema
  • Digitalisierung: Zwei Sichtweisen
    Ist die Euphorie größer als es gut tut?
  • Biosimilars: Europa bleibt Vorreiter
    OECD: Austauschbarkeit europaweit vereinheitlichen?
  • Bleibt Cannabis eine Kassen-Entscheidung?
    Ärzte wollen keinen unnötigen Verordnungsclinch
 

Kassenreform: Spahn und sein Zentralismus

Der Entwurf „Gesetz für eine faire Kassenwahl in der GKV“ bietet viel gesundheits-politischen Sprengstoff. Die Kassenlandschaft würde grundlegend verändert werden.

Lange wurde der Entwurf zur Reform des Finanzausgleiches der Kassen gefordert und herbeigesehnt. Nun ist er da und heißt „Faire-Kassenwahl-Gesetz“. Und die Änderungsideen am Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA), dem zentralen Finanzverteilungsinstrument der gesetzlichen Krankenversicherung, wirken plötzlich zweitrangig, denn Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat mit dem Entwurf ein ganz großes Pulverfass geöffnet. Genau genommen geht es um diesen Satz im Paragrafen 143 des SGB V: „Der Zuständigkeitsbereich von Ortskrankenkassen erstreckt sich auf das gesamte Bundesgebiet“. Danach müssten sich künftig alle regional geöffneten Kassen, und somit vor allem alle Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOKen), dem bundesweiten Wettbewerb stellen. Eine AOK Baden-Württemberg wäre dann ein Konkurrent der AOK Nordost. Damit könnten die regionalen Kassen auch nicht mehr von regionalen Einzelverträgen zwischen Kassen und Ärzten oder Arztgruppen profitieren, wie sie das Bundesversicherungsamt erst kürzlich zwischen bundesunmittelbaren Kassen untersagt hatte (beispielsweise Versorgungsvertrag zwischen der KV Nordrhein und der TK). Spekuliert wurde zuvor über eine Vereinheitlichung der Kassenaufsicht beim Bundesversicherungsamt (BVA). Den Landesbehörden wurde in der Vergangenheit öfter vorgeworfen, sie würden bei der Prüfung der regionalen Krankenkassen des Öfteren ein Auge zudrücken.

Bei den AOK-Mitbewerbern findet dieser Spahn-Vorstoß nach einer ersten Entwurf-Sichtung Anklang. Von einem „wesentlichen Beitrag für mehr Fairness im Wettbewerb“ (DAK-Chef Andreas Storm) über Maßnahmen gegen „das antiquierte Organisationsrecht“ (BKK-Chef Franz Knieps) hin zu einem Weg, der „konsequent“ sei (IKK-Geschäftsführer Jürgen Hohnl), ist dort einiges zu hören. Dieser neue Plan geht jedoch deutlich über die Vereinheitlichung der Aufsicht hinaus. Die Öffnung der regionalen Kassen würde den Preiskampf und Konkurrenzdruck der Kassen auf die Spitze treiben, kritisiert der Deutsche Gewerkschaftsbund. Das Werben um junge, gesunde Versicherte würde sich eklatant verschärfen. Maria Klein-Schmeink, Sprecherin für Gesundheitspolitik, Bundestagsfraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN, spricht von einer „gezielten Provokation“. Es sei fraglich, ob die Öffnung am Ende auch so kommen werde. Die Sozialministerien mehrerer Länder, unter anderem Nordrhein-Westfalen und Bayern, haben die Öffnung abgelehnt. Aus Bayern heißt es beispielsweise, dass „der bisherige Wettbewerb zwischen bundesweiten und regionalen Krankenkassen um die bessere Versorgung vor Ort erlahmen wird“. Zudem werde es auch nicht mehr Kassenwettbewerb auf der Beitragsseite geben. „Vielmehr wird der wirtschaftliche Druck zu Kassenfusionen steigen - letztlich kommt es zu einem Trend in Richtung Einheitskrankenkasse und Einheitsversicherung“, so die Gesundheitsministerin Melanie Huml. Und tatsächlich setzen sich auch die Innungskrankenkassen für ein „gegliedertes, regionales Krankenkassensystem“ ein, denn „Wettbewerb setzt Anbietervielfalt“ voraus. Die vermeintlichen Leidtragenden, die AOKen selbst, setzen in ihren Argumentationen auf die Stärke der regionalen Kenntnis. Verschiedene Versorgungsprogramme, zum Beispiel das Haus- und Facharztprogramm in Baden-Württemberg, hätten gezeigt, dass regionale Gestaltungsbereitschaft zwingend notwendig sei. Doch auch bei den AOKen zeigt man sich optimistisch, denn „kein Gesetz kommt so aus dem Prozess, wie es hineingegangen ist“.

Die Diskussionen dürften spannend werden – und müssen zeitnah erfolgen. Ein Kabinettsentwurf soll bis zur Sommerpause vorliegen, damit ein Inkrafttreten zum 1. Januar 2020 realistisch ist.

Neuer Morbi-RSA als „Meilenstein der Sozialgeschichte“?

Lang wurde der Gesetzentwurf zur Neustrukturierung der Finanzierung der Kassen – vor allem über den Morbi-RSA – erwartet. So könnte der neue Finanzausgleich aussehen.

Als vor rund zehn Jahren der Morbi-RSA (morbiditätsorientierter Risikostruktur-ausgleich) zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen eingeführt wurde, gab es noch gut 200 Kassen, heute sind es nur noch 108. Seit der Einführung der seinerzeit vor allem aus dem AOK-Lager gelobten Verteilung der Versicherten-beiträge nach Krankheitsdiagnosen, reißt der Jammer vieler anderer Kassen nicht ab. Jetzt hat Gesundheitsminister Spahn den lange erwarteten Entwurf zur Änderung des Verteilmechanismus vorgelegt. Es geht um viel Geld – zurzeit etwa 234 Milliarden Euro. Und es geht ums Überleben für einige der Institutionen. Je nach aktueller Finanzausstattung schlagen die Wogen der Empörung hoch oder man hört genugtuende Zustimmung. Letztere vor allem aus dem Lager der Kassen, die weniger Patienten mit den bislang 80 für den Morbi-RSA relevanten Krankheiten hatten. Denn hier setzt Spahn zunächst den Hebel an. Die Zahl der für den Ausgleich relevanten Krankheiten soll auf alle 360 kodierbaren Diagnosen ausgeweitet werden. Gleichzeitig plant Spahn einen „Risikopool“ für besonders schwere Erkrankungen mit mehr als 100.000 Euro Jahres-Therapiekosten. Letztere könnten, besonders bei schweren Erkrankungen, die mit hoch-innovativen Biologicals behandelt werden, aufgrund der innovativen aber auch teuren pharmazeutischen Entwicklung künftig öfter erreicht werden. Aber auch einen Anteil der ambulanten Pflegekosten sowie das große Thema Prävention und Impfungen will der Minister in die Bemessung einfließen lassen. Als der Morbi-RSA seinerzeit eingeführt wurde, gab es viele Klagen, dass vor allem das AOK-Lager Ärzten gerne die Krank-Kodierung von Patienten nahelegte. Nicht zuletzt auch deshalb ist in dem Entwurf so etwas wie eine „Manipulationsbremse“ vorgesehen: Ein auffälliger Anstieg bestimmter Diagnosen könnte deren Wert für die Berechnung des Ausgleichs künftig senken.

Immer mehr Lieferengpässe

Ein immer wichtigeres gesundheitspolitisches Thema ist die Sicherung der europäischen Arzneimittelproduktionsanlagen.

Mit dem Beitragssatzsicherungsgesetz wurde den gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) 2003 die Möglichkeit gegeben, vertragliche Vereinbarungen mit Arzneimittelherstellern über die exklusive Belieferung der Kassenversicherten mit den vereinbarten Medikamenten des Herstellers zu treffen. Die Arzneimittel-Rabattverträge waren geboren. Auch nach weiteren gesetzlichen Anpassungen ist das Instrument immer wieder im Mittelpunkt gesundheitspolitischer Diskussionen. Finale Zahlen für das Jahr 2018 liegen zwar noch nicht vor, aber nach Hochrechnungen des Deutschen Apothekerverbandes (DAV) konnte die GKV Rekordeinsparungen von mehr als vier Milliarden Euro durch diese Regelung erzielen. Standen die Rabattverträge bisher vorrangig als Instrument zur Dämpfung der Ausgabensteigerungen im Arzneimittelbereich im Mittelpunkt, so bringt der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V. (BPI) einen weiteren, immer relevanter werdenden Aspekt in Diskussion ein: Lieferengpässe. Diese wurden beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in den letzten 12 Monaten für mehr als 260 Arzneimittel gemeldet. Lieferengpässe sind längst nicht nur ein Problem, das bei Impfstoffen auftritt. Bei der Behörde wird auch eine Liste der versorgungsrelevanten Wirkstoffe geführt. Diese umfasst inzwischen mehr als 500 Wirkstoffe, von denen 2017 bereits 90 Prozent eine hohe Marktkonzentration, also drei oder weniger Anbieter im Markt, aufwiesen. 2008 waren es noch rund 63 Prozent. Der Gesetzgeber hat mit dem Register zur Meldepflicht von Engpässen (in Krankenhäusern) und dem erleichterten Import aus dem Ausland einige Maßnahmen gegen Lieferengpässe in die Wege geleitet. Aber reicht das? „Arzneimittel-Engpässe sind häufig, betreffen alle medizinischen Fachgruppen und sind vielfältig“, so Prof. Dr. Bernhard Wörmann, Medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO), bei einer Veranstaltung in Berlin. Deshalb müsse bei der Förderung pharmazeutischer Industrie in Europa, dem Schutz unverzichtbarer Arzneimittel durch Vorratshaltung sowie der Begrenzung von Rabattverhandlungen und Schaffung von Anreizen zur Bereitstellung unverzichtbarer Arzneimittel nachgelegt werden.

Da setzt auch der BPI mit seinen drei jüngsten Forderungen an. Rabattvertragsausschreibungen sollen mindestens einen Anbieter mit europäischer Produktionsstätte berücksichtigen, meint der Verband. Eine Zurückverlagerung aller Produktionsschritte samt der Wirkstoffproduktion sei „wünschenswert“, aber auch „illusorisch“, so Dr. Martin Zentgraf, Vorstandsvorsitzender des BPI. Es gehe vielmehr darum, die noch in Europa bestehende Produktion zu festigen und zu halten. Eine Rückkehr der Produktionsstätten sei nur durch aktive Förderung auf nationaler und europäischer Ebene möglich. Darüber würde man sich im Bundesforschungs- und Wirtschaftsministerium bereits Gedanken machen. Zudem fordert der BPI, dass für versorgungsrelevante Wirkstoffe mit weniger als vier Anbietern künftig keine Rabattverträge mehr abgeschlossen werden sollen. Zuletzt sollen Krankenkassen Rabattvertragszuschläge stets an mindestens drei pharmazeutische Unternehmer erteilen. Dadurch sei die Versorgungssicherheit auch im Falle des Ausfalls eines Rabattvertragspartners weiter gesichert. Zentgraf schätzt die zusätzlichen Kosten für eine Umsetzung aller geforderten Maßnahmen auf „maximal zwei Milliarden Euro“.

Weitere „Bonbons“ für die Apotheker

Die Diskussion um ein „Kompensationsangebot“ für das noch im Koalitionsvertrag versprochene Versandhandelsverbot geht weiter. Aus dem Gesundheitsministerium kommt jetzt ein neues Angebot. Im Prinzip geht es um Geld, während die Kammern weiterhin sichere Strukturen für ihren Berufsstand fordern.

Koalitionsverträge enthalten oft Wahlversprechungen, die bekanntlich häufig nicht eingehalten werden. So aktuell mit dem Versprechen ein generelles Versandhandelsverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel umzusetzen. Anders als bei manchen Wahlversprechen vertröstet die Politik die Apothekerschaft, die den faktischen Verlust der Preisbindung von Medikamenten fürchtet, aber nicht auf einen späteren Umsetzungstermin. Das klare Signal ist: Ein Versandhandelsverbot „wird es wohl nicht geben, da es kaum rechtssicher umzusetzen wäre“. Stattdessen schlug Gesundheitsminister Spahn der Apothekerschaft schon im Dezember „Apotheken-Eckpunkte“ vor, die diese in Vertragsgeschäften mit den Kassen und in der Honorierung von Apothekenleistungen besserstellen. Spahn hat mit seinem zweiten Entwurf Konkretisierungen vorgestellt, die zwar mehr bezahlte Dienstleistungen für die Pharmazeuten enthalten, diese im Grunde aber nicht in der Rechtsstellung der Apotheke besserstellen. Über der ganzen Debatte um die Apothekenreform schwebt das Thema Rx-Boni und Versandhandelsverbot. Spahn will laut neuen Eckpunkten ein Boni-Verbot künftig nur noch im Sozialgesetzbuch verankern, um es dem Zugriff des Europäischen Gerichtshofes zu entziehen. Gleichzeitig aber soll Paragraf 78 Absatz 1 Satz 4 im Arzneimittelgesetz, der die Gleichpreisigkeit auch für EU-Versandhändler anordnet, aus dem Arzneimittelgesetz gestrichen werden. Damit wird seitens des Ministeriums auf die Brüsseler Drohungen im EU-Vertragsverletzungsverfahren reagiert. Apothekenvertreter forderten derweil, dass die Gleichpreisigkeit dann auch für Privatversicherte gelten müsse.

Die Reaktionen der Apothekerschaft auf den zweiten Entwurf sind zweigeteilt. Während den berufspolitisch aktiven Verbänden eher nach Vergütungsverhandlungen zu sein scheint, stellen körperschaftliche Vertretungen wie die Apothekerkammer Nordrhein noch einmal klar: „Uns geht es nicht um Geld, sondern um Strukturen“ ( Kammerpräsident Lutz Engelen). Wenn schon nicht ein Versandhandelsverbot den Bestand der Apotheke vor Ort sichere, so Engelen, müsste deren pharmazeutische Kompetenz in der Versorgung auf andere Weise erhalten werden, beispielsweise durch Übertragung des qualitativen Sicherstellungsauftrags an die Kammern. Ein entsprechendes Gutachten dazu hatte die Apothekerkammer Nordrhein Spahn bereits zugeleitet. In den neuen Eckpunkten findet sich dazu allerdings nichts. Zwar sieht auch das neue Eckpunktepapier mehr Geld für die Apotheken vor, verglichen mit dem Dezember-Entwurf ist es dennoch weniger. Durch die Erhöhung des Festzuschlags zur Förderung der Sicherstellung des Notdienstes auf 21 Cent je abgegebener Packung eines Rx-Fertigarzneimittels soll die Notdienstpauschale erhöht werden. Ursprünglich war eine Verdoppelung auf 32 Cent geplant; die Steigerung um 5 Cent von 16 auf 21 Cent entspricht etwa zusätzlichen 37 Millionen Euro. Je geleistetem Vollnotdienst erhält ein Apotheker dann ca. 350 Euro. Auch das sind rund 150 Euro weniger als im vorherigen Vorschlag. Auch bei der Einführung und Finanzierung der neuen Dienstleistungen, mit denen die Apotheken vor Ort unterstützt und ihre Kompetenzen besser werden sollen, gab es ein Zurückrudern. Die Finanzierung soll zwar immer noch durch einen neuen Festzuschlag erfolgen. Dieser beträgt nun aber 14 Cent statt zuvor 32 Cent je abgegebener Packung eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels. Hochgerechnet gibt es darüber statt der 240 Millionen Euro wohl rund 105 Millionen Euro – sollte es der Part so in das Gesetz schaffen. Doch bis das der Fall ist, wird wohl noch viel diskutiert.

Digitalisierung: Zwei Sichtweisen

Endlich sollen bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens die nächsten Schritte schnell umgesetzt werden. Viele Akteure stellen immer wieder erfreut fest, dass es jetzt losgeht. Doch ist der Übermut gefährlich?

Bei einem Fachsymposium zum Thema Digitalisierung wurden zwei völlig konträre Sichtweisen zur Digitalisierung präsentiert. Auf der einen Seite stand der E-Health-Fan Professor Dr. Jörg Debatin. Der ehemalige Chef des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf wird ab 11. April 2019 den unabhängigen neuen Health Innovation Hub leiten, der das Bundesgesundheitsministerium zu digitalen Potentialen und Nutzen beraten soll. Das Projekt ist auf drei Jahre angelegt. Bislang sind vier der elf Expertenstellen besetzt. Für die offenen Stellen laufen Ausschreibungen. Wahrscheinlich werden in dem Gremium am Ende keine kritischen Stimmen zur Digitalisierung sitzen. Auf genau diese traf Debatin bei der Berliner Veranstaltung. Prof. Dr. Gerd Antes, Co-Director der Cochrane-Stiftung und renommierter Mathematiker, warnte vor dem Digitalisierungshype und zu großen Hoffnungen in Blasen. Natürlich klangen die Ausführungen von Debatin schicker, wünschenswerter. Patienten würden zudem künftig ihre medizinischen Daten nutzen, um gesund zu bleiben. Die Medizin werde sich grundsätzlich von „Finden und Reparieren“ zu „Vorhersagen und Vorbeugen“ verändern. Für Debatin sind Daten das Kernstück der medizinischen Zukunft: „Es wird einen grundlegenden Paradigmenwechsel geben von der institutionsbezogenen Datenspeicherung hin zum Patienten. Der gemeinsame Nenner der Daten wird künftig nicht Rehaklinikum A oder Praxis B sein sondern der Patient.“ Ab dem 1. Januar 2021 muss jedem Versicherten von seiner Krankenkasse eine elektronische Patientenakte angeboten werden. Bestehende erste Angebote der Kassen seien ein guter Start, müssten aber mit einheitlichen Datenformaten und einer einheitlichen Semantik interoperabel und portabel gemacht werden. Der Fortschritt bei künstlicher Intelligenz und Algorithmen mache die Radiologen künftig in ihrer jetzigen Form überflüssig. Die Radiologie werde sich in Richtung Labormedizin entwickeln, ist Debatin überzeugt. Dann werde Zeit frei, um sich mit komplexeren Fällen zu beschäftigen. Auch bei den Pathologen werde sich das Berufsfeld drastisch wandeln. Künftig würden Pathologen nicht mehr durch ein Mikroskop gucken, um zu entscheiden, ob eine Zelle eckig oder rund sei.

Antes, andererseits, mahnte, dass die Annahme, mehr Daten ist besser, falsch sei. Unter anderem hätten Studien der Harvard-University gezeigt, dass eine falsche Datennutzung das Outcome verschlechtere. „Wir brauchen Datenmanagement – und zwar von Anfang an. Wir können Daten nicht im Nachhinein zusammenführen und es so flicken. Das funktioniert nicht“, so Antes. Die aktuelle Datenhandhabe führe bestenfalls zu quantitativen statt qualitativen Fortschritten und einem Anstieg falsch-positiver Befunde. Das IBM-Vorzeigesystem Watson sei beispielsweise im Bereich Gesundheit gnadenlos gescheitert. Kritisch äußerte er, dass sich selbst die Wissenschaft dem Hype unterworfen hätte und die Big Data-Themen zwar umsetzen, aber nicht grundlegend auf ihre Tauglichkeit überprüfen wolle. „Die Eckpfeiler der Wissenschaft werden bei Big Data völlig aufgegeben“, so Antes. Die Ergebnisqualität dürfe nicht vergessen werden, warnte der Mathematiker. Auch stecke Deep Learning weiterhin in den Kinderschuhen. „Falsche Informationen können auch mit KI schneller wachsen“, so Antes. Die Systeme könnten nicht viel mehr als die neuronalen Netze der 80er-Jahre. „Da wurde dann der Name geändert, um an die neuen Fördertöpfe zu kommen.“ Doch bei aller Kritik ist Antes kein Gegner der Digitalisierung. Diese müsse nur richtig gemacht werden. Denn sonst würden die Trend-„Blasen“ irgendwann platzen, nachdem viel Geld in Systeme gesteckt wurde, welche die Patientenversorgung nicht qualitativ verbessern.

Biosimilars: Europa bleibt Vorreiter

Biosimilars sind gesundheitspolitisch ein großes Thema – bundesweit und auf der Europaebene.

Europa ist weltweit führend im Bereich Biosimilars, also Nachfolgeprodukten eines patentfreien und biopharmazeutisch hergestellten Arzneimittels. Das erste Biosimilar wurde im Jahr 2006 von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zugelassen. Zum Vergleich: In den USA, dem größten Gesundheitsmarkt der Welt, sind Biosimilars erst seit 2015 ein Thema. Während in Europa 58 Biosimilars (vier zurückgezogen, sieben im Zulassungsverfahren) die EMA-Prüfung bestanden haben, sind es in den USA gerade einmal 15, von denen sechs auf dem Markt sind. 90 Prozent des weltweiten Biosimilarmarktes sind derzeit noch in Europa. Doch auch wenn die EMA die Arzneimittel zentral für Europa zulässt, eine Empfehlung über die Austauschbarkeit mit dem Referenzarzneimittel gibt sie nicht ab. Die Entscheidung, ob der Austausch oder Wechsel zu einem Biosimilar erlaubt wird, wird auf der nationalen Ebene getroffen, heißt es seitens der EMA.

In Deutschland obliegt die Auswahl zwischen Referenzarznei und Biosimilar ausschließlich dem behandelnden Arzt. Dies würde das Bundesministerium für Gesundheit gerne ändern. Ursprünglich sollte im Entwurf für ein „Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV)“ der Austausch von Biosimilars in der Apotheke festgehalten werden. Dies findet sich nun doch nicht im Entwurf wieder. Stattdessen soll der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in seinen Richtlinien die Austauschbarkeit für das betreffende Arzneimittel bewerten. Im Entwurf heißt es, dass der G-BA für die ärztliche Verordnung Hinweise zur Austauschbarkeit von Darreichungsformen und von im Wesentlichen gleichen biologischen Arzneimitteln [...] unter Berücksichtigung ihrer therapeutischen Vergleichbarkeit abzugeben hat. In einer dreijährigen Übergangsregelung sollen weitere wissenschaftliche Erkenntnisse über die Austauschbarkeit und die Versorgungspraxis mit Biosimilars gesammelt werden. Das BMG schätzt, dass im vergangenen Jahr bei konsequenter Umstellung auf Biosimilars insgesamt 279 Millionen Euro hätten eingespart werden können. Der Betrag dürfte künftig weiter ansteigen.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) findet solche nationalen Lösungen zu kompliziert. Wenn die zentralen Berücksichtigungen für die Austauschbarkeit Sicherheit, Immunogenität und Wirksamkeit seien, sollte die Entscheidung dann nicht bei den Zulassungsbehörden getroffen und einheitlich angewendet werden?, fragte Ruth Lopert, Gesundheitsanalystin der OECD, unlängst auf einem europäischen Fachkongress.
Dass ein Austausch oder Switch aus ökonomischen Beweggründen erfolgt, ist nicht verwunderlich. Dennoch sei aus OECD-Sicht der Wettbewerb um den niedrigsten Preis nicht der beste, denn er dränge Anbieter aus dem Markt und schwäche die Versorgung.

Doch die Austauschbarkeit darf nicht nur an monetäre Gründe geknüpft werden. Denn neben dem Namen und der Verpackung ändern sich vielleicht auch das Aussehen und die enthaltenden Hilfs- und Zusatzstoffe bei einem Wechsel auf ein Alternativpräparat. Bei Patienten, die hohe Erwartungen und Hoffnungen in ihre Therapie stecken, muss dann viel Informationsarbeit durch Ärzte, und womöglich künftig Apotheker, geleistet werden. Wenn die Adhärenz nachlässt, weil der Patient dem neuen Medikament nicht vertraut, dann ist Niemandem geholfen. Die Besucher der „17th Biosimilar Medicines Conference“ nannten bei einer Teilnehmerumfrage Fehlinformationen und Informationsmangel, auch bei den Ärzten, als größte Hürde für Biosimilars.

Bleibt Cannabis eine Kassen-Entscheidung?

Ärztevertreter stellen sich gegen ein politisches Vorhaben, das ihnen mehr Freiheiten gewähren würde.

Wenn Krankenkassen und Ärzte eine ziemlich ähnliche Meinung vertreten, dann ist das eine kurze Notiz wert. So ist es nun beim Genehmigungsvorbehalt für medizinisches Cannabis geschehen. Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur „Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ im März 2017 kann jeder Haus- und Facharzt seinen Patienten unter bestimmte Voraussetzungen medizinisches Cannabis als Extrakt oder Blüten nach vorheriger Genehmigung der jeweiligen Krankenkasse des Versicherten verordnen. Kritiker warfen den Kassen zuletzt immer wieder zu hohe Ablehnungsquoten vor. Zudem sei der Prozess bürokratiebelastet, zeitaufwändig und müsse bei einem Präparatswechsel erneut erfolgen.

Während die Bundestagsfraktionen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE Anträge auf den Wegfall des Genehmigungsverbotes eingebracht haben, wollen die Ärzte den neuen Spielraum nicht. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) weist darauf hin, dass es sich bei der Behandlung mit medizinischem Cannabis nicht um eine allgemein anerkannte Therapie mit zugelassenen Arzneimitteln handelt. Die derzeitige Regelung erhöhe die Verordnungssicherheit für den Vertragsarzt, weil dieser sich in Wirtschaftlich-keitsprüfungen nicht für entsprechende Verordnungen gegenüber den Krankenkassen rechtfertigen müsse. Was sich die KBV hingegen wünscht, wurde im Rahmen des „Gesetzes für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV)“, das im Sommer in Kraft treten soll, festgehalten: Bei einem erforderlichen Wechsel der Cannabissorten zur besseren Einstellung der Patienten soll künftig keine erneute Genehmigung durch die Krankenkasse erforderlich sein.

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